Sergej Iwanow, stellvertretender Ministerpräsident der Russischen Föderation, war auf der 44. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik der ranghöchste russische Politiker. Seine dort am 10. Februar gehaltene Rede gibt zwar keine erschöpfende Antwort auf die Frage "Wohin geht Russland?", doch ist sie geeignet, sich ein Bild von der Weltsicht einer Führung zu verschaffen, die nach der Präsidentenwahl vom 2. März weiter die Geschicke Russlands bestimmen dürfte. Wir dokumentieren diesen Vortrag auch als Beitrag zur Debatte um die letzte Pressekonferenz, die Wladimir Putin am 14. Februar als Präsident gegeben hat.
Wie Präsident Putin vor einem Jahr hier in München ausführte*, müssen wir uns nicht nur auf diplomatische Höflichkeit begrenzen, sondern sollten alle Punkte aufrichtig ansprechen. Dem versuche ich zu folgen. Ich bin sicher, dass hier jeder klar erkennt, dass sich Russlands Wiederbelebung mit unserem Ehrgeiz verbindet, einen angemessenen Platz in der Weltpolitik einzunehmen sowie unsere Staatsinteressen zu wahren.
Wir beabsichtigen nicht, dieser Herausforderung mit der Etablierung militärischer Blöcke zu genügen oder uns in offener Konfrontation mit unseren Partnern zu engagieren. Wir entwickeln eine durchweg multivektorielle Kooperation mit verschiedenen Nationen sowie innerhalb internationaler Schlüsselorganisationen. Dies deckt sich völlig mit einer neuen Wahrnehmung der Welt durch die Russen, die von ihrem Potenzial überzeugt und folglich zu globalem Denken fähig sind. Ideologische und andere Vorurteile haben wir über Bord geworfen. Wir exportieren keine Ideologie mehr - wir exportieren nur Waren und Kapital.
Russland ist ein offenes Land und innerhalb eines beispiellosen historischen Wandels dabei, mitten im Fahrwasser der Weltpolitik und Weltökonomie zu bleiben. Ich bin überzeugt, dass die Bewohner Russlands die darauf fußende Politik bei der Präsidentenwahl am 2. März eindrucksvoll unterstützen werden.
Wir exportieren keine Ideologie mehr - wir exportieren nur Waren und Kapital
Wir respektieren die Werte, wie sie durch Amerika und Europa seit Jahrhunderten geschätzt werden. Auch wir fühlen uns der Demokratie verpflichtet, doch können wir kaum akzeptieren, dass es irgendeine Universal-Erfahrung oder -Idee gibt, die als Standard für alle Zeiten und alle Nationen gilt. Eine Art von "Trojanischer Unze", die politische Strukturen, nationale Kulturen, Religionen und Mentalitäten misst. Folglich basieren unsere Vorstellungen auf dem Wissen um die Verschiedenartigkeit von Wegen, um sich dem zu nähern, was als Harmonie in der Gesellschaft gilt. Zugleich teilt Russland die Meinung, dass Demokratie ähnliche Fähigkeiten und Institutionen erfordert, wie sie für das Funktionieren freier Märkte nötig sind. Daher sind die mit sozialer Verantwortung verflochtenen Regeln der Marktwirtschaft bereits ein belastbares Fundament unserer Wirtschaft geworden.
So hat das Bruttoinlandsprodukt in Russland während der vergangenen neun Jahre um 80 Prozent zugenommen - werden wir für fremde Investoren immer attraktiver. Im Vorjahr hat sich der Nettokapitalzustrom gegenüber dem Vorjahr auf 82,3 Milliarden Dollar erhöht und damit fast verdoppelt. Ausländische Direktinvestitionen belaufen sich auf einen Wert von mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nebenbei erhöhen sich ausländische Vermögenswerte an bedeutenden russischen Unternehmen, und das trotz der feindseligen Haltung einiger europäischer Länder.
Wir wollen nicht die "Alte Welt" mit unseren Petrodollar kaufen. Aber wenn wir fremde Investoren in Russland begrüßen, erwarten wir auch Gegenleistungen. Momentan gibt es bei den gegenseitigen Investitionen ein Verhältnis von 10 : 1 zugunsten der EU. Einige Staaten reden von Liberalisierung und riegeln ihre Märkte ab - begleitet von Kritik an russischen Unternehmen, die angeblich "von klassischen Grundregeln der Marktwirtschaft abweichen". Es wird gar versucht, unserem Modell das Label "Staatskapitalismus" anzuheften.
Lassen Sie mich entgegnen: Die staatlich-private Partnerschaft ist der Schlüsselmechanismus, der Russlands Entwicklung sichert. Wir wollen eine gemischte Wirtschaft und eine enge Interaktion zwischen ihren beiden Sektoren - dem staatlichen und dem privaten, mit einer etwaigen Verlagerung der Balance zugunsten des letzteren.
Für die vermehrte Einbeziehung des Staates ins russische Wirtschaftsleben gibt es derzeit keine Alternative. Nur der Eingriff des Staates ermöglicht es, eine einseitig auf Rohstoffe orientierte Volkswirtschaft in Richtung einer innovativen Entwicklungsstrategie zu lenken.
Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen - unsere Mitarbeit bei Boeing blüht
Wir konzentrieren uns auf jene Sektoren der Technologie, in denen Russland immer führende Positionen in der Welt einnahm. Zuallererst betrifft das den Flugzeugbau, die Schiffbautechnik, die Atomenergie sowie die Raketen- und Weltraumtechnologie. Als Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Luftfahrt-Korporation möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass unsere Mitarbeit mit Boeing blüht.
Wie sich die momentanen strukturellen Reformen auswirken, lässt sich dem Umstand entnehmen, dass 2007 etwa zwei Drittel unseres Bruttoinlandsproduktes in der Industrie, im Bauwesen und im Handel erwirtschaftet wurden. Die Förderung von Rohstoffen wuchs hingegen nur um zwei Prozent, was Öl und Gas einschließt. Im Ganzen gesehen wuchs Russlands Bruttoinlandsprodukt 2007 um 8,1 Prozent. Wir haben gute Gründe, auf diesen Wert stolz zu sein.
Ich möchte aber besonders betonen, dass der Trend weg von der primären Rohstoff-Wirtschaft keine Degradierung des Kraftstoff- und Energiesektors bedeutet. Unseren Partnern im Westen sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich versichert, dass Russland bisher alle Verpflichtungen in der Energiezufuhr erfüllt hat und weiter erfüllen wird. Wir entwickeln unser Exportpotenzial bei Öl und Gas und halten es von politischen Bedingungen bestimmter Transitländer frei. Das hatten wir im Sinn, als gemeinsam mit Deutschland der Aufbau der nordeuropäischen Gas-Pipeline begonnen wurde. Das Projekt Südstrom nimmt gleichermaßen Gestalt an.
Hohe Weltmarktpreise für Öl und Gas haben dazu geführt, dass sich erstmals - gemessen an der Geschichte der Sowjetunion und Russlands - unsere Gold- und Währungsreserven der 500-Milliarden-Dollar-Grenze nähern. Der Gesamtwert unserer Währungsreserven wie des Nationalen Wohlfahrtsfonds, in denen sich die Gewinne aus den Rohstoff-Verkäufen sammeln, übersteigt augenblicklich den Wert von 150 Milliarden Dollar.
Das verschafft uns beispiellose Möglichkeiten für wirtschaftliches Wachstum, für einen höheren Lebensstandard, für zusätzliche Jobs und annehmbare Löhne, für eine bessere Gesundheitsversorgung, mehr Wohnungen, mehr Anreize für Bevölkerungswachstum und Kultur. Als Angelegenheit hoher Priorität haben wir unsere Innenpolitik darauf abgestimmt, sich auf Humaninvestitionen zu konzentrieren. Wir haben uns das Ziel gesetzt, dass die Russische Föderation bis 2020 mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 30.000 Dollar zu den fünf größten Wirtschaftssystemen der Welt gehört. Derzeit liegt dieser Wert bei 12.000 Dollar.
Wir können uns nicht darauf einigen, wie "Terrorismus" zu definieren ist
Ein reicheres Russland wird die Sicherheitsbelange anderer Länder nicht bedrohen, dennoch wird unser Einfluss auf globale Prozesse wachsen.
Nebenbei bemerkt werden aus historischen Gründen noch viele aktuelle Belange durch das Prisma der Beziehungen zwischen Moskau und Washington betrachtet, schließlich haben beide Länder lange Zeit eine spezielle Verantwortung für die Zukunft der Welt geteilt. Jedoch lassen die Haupttendenzen der heutigen Entwicklung - einschließlich der wieder auftauchenden Multipolarität - vermuten, dass strategische Stabilität keine exklusive Angelegenheit Russlands und der Vereinigten Staaten bleiben kann. Objektiv gesehen ist die Zeit reif, diesen Rahmen für alle Staaten zu öffnen, die etwas für weltweite Sicherheit tun wollen.
Es gibt mehrere Atommächte und immer mehr Länder mit starker Raketentechnologie. Alle diese Staaten - nicht Russland und die USA allein - sollten die Verantwortung für den Erhalt der strategischen Stabilität teilen. Wie Herr El-Baradei** kürzlich feststellte, und ich stimme dem zu, findet eine Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen keinerlei Zustimmung. Die Spielregeln müssen daher angesichts hundertfacher Verstöße gegen die Proliferation viel strikter eingehalten werden. Man sollte sich an Staaten halten, die aus ethischen Motiven freiwillig auf den Besitz dieses tödlichen Potenzials verzichtet haben.
Früher oder später müssen wir ein multilaterales Format der Zusammenarbeit finden. Spätestens dann, wenn keiner mehr irgendwelche Zweifel an der Notwendigkeit multilateraler Barrieren hegt, die eine Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindern. Es ist daher gewiss erwähnenswert, dass Russland und die USA nicht ohne Erfolg versucht haben, alle Länder zum Mittun im globalen Kampf gegen den Atomterrorismus zu nötigen.
Im Großen und Ganzen bin ich davon überzeugt: Das russisch-amerikanische Erbe kann als Nährboden für ein modernes, offenes System der kollektiven Sicherheit, auch in Europa, dienen.
Und nochmals zum Terrorismus: Es handelt sich um ein schreckliches Phänomen und offenbar den Erzfeind der zivilisierten Welt. Der Kampf dagegen bietet Gelegenheit für gemeinsame Aktionen, aber wie können wir wirkungsvolle Maßnahmen besprechen, wenn wir uns bis heute nicht darauf einigen können, wie "Terrorismus" zu definieren ist?
Stattdessen bemühen sich einige Staaten, mit antiterroristischen Operationen allein ihre eigenen geopolitischen und ökonomischen Ziele zu verfolgen. Es ist Zeit, mit Entschiedenheit alle Leitbilder hinter uns zu lassen, die aus ideologischen Gründen die Welt geteilt haben. Dies zu überwinden, ist ein langwieriger Prozess. Wie langwierig, das zeigen die Versuche, zur Eindämmungspolitik gegenüber Russland zurückzukehren.
Abschließend möchte ich die häufig gestellte Frage "Wohin geht Russland?" wie folgt beantworten: Wir gehen in Richtung einer sozial-orientierten Marktwirtschaft, um Lebensstandard und Lebensqualität unserer Bevölkerung zu heben. Wir suchen eine enge internationale Zusammenarbeit, die auf den Grundregeln international gültiger Gesetze basiert.
(*) s. Freitag 07/2007
(**) Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.