Die Frau ist um ihr Leben gelaufen. Und nun fragt sie mit flehender, verzweifelter Stimme: „In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?“ Die irakische Christin ist auf der Flucht vor dem „Islamischen Staat“ (IS, vormals ISIS). „Sie werden uns verkaufen, sie werden uns vergewaltigen.“ Ihre Worte ähneln denen jenes kurdischen Abgeordneten, der vor dem irakischen Parlament unter Tränen beschrieb, welches Schicksal seine jesidischen Glaubensbrüder und -schwestern erwarte: „Unsere Frauen werden versklavt und auf dem Basar der Schande feilgeboten.“
Wir schreiben das Jahr 2014, und 40.000 Anhänger eines Tausend Jahre alten Glaubens kauern auf einem Höhenzug, der ihnen als letzter Ankerplatz der Arche Noah gilt, sie fürc
fürchten, dass ihre Frauen auf Sklavenmärkte verschleppt werden. Ja, in welchem Jahrhundert befinden wir uns eigentlich? In den Nachrichten hört man von uraltem konfessionellen Hass. Schließlich geht die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten auf einen theologischen Disput aus dem siebten Jahrhundert zurück, aber die IS-Anführer bezeichnen die Wiedererrichtung eines Kalifats aus ebendiesem Jahrhundert als ihre Bestimmung und Mission. Da lockt die Schlussfolgerung, es sei tatsächlich das kuriose Schicksal unserer angeblich modernen Zeit, in einen Sog geraten zu sein, wie er von einer vormittelalterlichen wie mittelalterlichen Welt des Heiligen Kriegs und des massenhaften Tötens im Namen der Religion ausgeht.Welche Ironie: Während die Technik rasend schnell voranschreitet, dreht die Uhr sich rückwärts, einem neuen dunklen Zeitalter der Massaker, Enthauptungen und Versklavungen entgegen, in dem eine furchterregende Armee, die sich auf eine Glaubensgemeinschaft beruft, mit dem anachronistischen Ultimatum droht: Beugt euch unserem Gott oder sterbt.Uralt und hochmodernAus Sicht eines erklärtermaßen säkularen Europas, in dem selbst die wässrigste Form des Christentums nur Minderheiten interessiert, ist in anderen Weltgegenden das Fortbestehen der Religion eine der großen Überraschungen des 21. Jahrhunderts. Lange galten technischer Fortschritt und Niedergang des Glaubens als symbiotischer Vorgang. Wenn mehr Menschen Zugang zu fließendem Wasser und Strom, zu Fernsehen und Smartphones erhielten, würden die alten, primitiven Vorstellungen schon schwinden, dachte man. Doch die Ereignisse im Nahen Osten haben diese inzwischen skurril wirkende Annahme zunichtegemacht. Über einst säkularen Staaten wie den ehemals baathistischen Republiken Irak und Syrien, die statt der Religion dem Nationalismus huldigten, weht heute die schwarze Flagge der IS, sie gilt einer Gruppierung, die ein Korangelehrter anführt, der sich selbst zum Kalifen erklärt hat.So zutreffend es auch scheint, die Rückkehr des Heiligen Kriegs als Zeichen unserer Zeit zu betrachten, so falsch ist es dennoch. Der brutale Vormarsch der IS, die plündernd eine Stadt nach der anderen einnimmt, mag tatsächlich an eine versunkene Welt erinnern – aber nicht so, wie wir dachten. Es handelt sich um eine Geschichte, die uralt und hochmodern zugleich ist.Toby Dodge, Irak-Experte am International Institute for Strategic Studies (IISS), sagt, was den phänomenalen Erfolg von IS ermögliche, sei weniger vormoderner religiöser Eifer als die Abwesenheit staatlicher Macht. Die entsprechenden Strukturen des Irak wie auch Syriens sind nahezu vollständig zusammengebrochen. Dadurch ist ein Machtvakuum der Art entstanden, wie es das im gesetzlosen Europa vor sieben oder acht Jahrhunderten gab. Dieses Vakuum nutzt die IS mit der rücksichtslosen Disziplin jener freiherrlichen Warlords, die sich einst in Europa selbst zu Prinzen erhoben.Die IS-Leute seien „Dschihadisten mit BWL-Studium“, sagt Dodge über die Bewegung, die so modern ist, dass sie einen eigenen Souvenirshop betreibt. Er verweist auf die Melange von ingrimmiger religiöser Ideologie, kalkuliertem Finanzgebaren und taktischem Scharfsinn. Als „darwinistisch“ beschreibt Dodge die Führungsgruppe um Abu Bakr al-Baghdadi, dem es gelungen ist, die Schläge zu überleben, die von den USA zwischen 2007 und 2009 gegen Al-Qaida-Filialen im Irak geführt wurden. „Wichtigster Faktor aber ist nicht religiöser Hass, sondern ein Kollaps der Staatsmacht“, sagt Dodge.Folglich greift die Bewegung überall dort an, wo die Gesetze des Staats nicht gelten oder kein starker Widerstand zu erwarten ist. Als ihr Vormarsch südlich von Bagdad abgewehrt wurde, kehrte die IS um und suchte nach anderen Lücken, in die sie hineinstoßen konnte. Man fand die christlichen Gebiete oder die abgelegene Jesiden-Hochburg Sindschar. Mit gnadenlosem Appetit wird auf jeden Flecken des Irak oder Syriens Jagd gemacht, den IS-Kommandeure für leicht einnehmbar halten.Im Irak zerfällt die Erklärung des Desasters in zwei Teile. Zuerst hat die von den USA angeführte Invasion im Jahr 2003 den Staat Saddam Husseins zerschlagen. Danach hat dann der bisherige Premier Nuri al-Maliki, dessen Tage gezählt sind, ausgehöhlt, was übrig war, und alle nationalen Institutionen vernichtet, die eine Gefahr für ihn und seinen schiitischen Herrschaftszirkel darstellten. Vor allem hat er die irakische Armee ausgeweidet. Eine Million unter Waffen stehender Männer galten ihm eher als persönliche Bedrohung denn als militärisches Kapital. Wie kann es da verwundern, dass die Stadt Mossul, die mehr von Kumpanen al-Malikis als von fähigen Kommandanten verteidigt wurde, beim ersten Ansturm der IS-Kohorten fiel? Trotz teurer Ausbilder aus den USA schmolz die irakische Armee einfach dahin.Die G-Null-WeltInsofern kann das Vakuum im Irak Amerika in zweifacher Hinsicht zum Verhängnis werden – die Invasion von 2003 war die Ursünde, die Art und Weise des Abzugs 2011 ein nicht minder katastrophaler Fehler, weil Militärgerät im Wert von Milliarden Dollar an eine unter al-Malikis Kommando stehende Armee übergeben wurde, um dann der IS in die Hände zu fallen. Die Folge ist, dass Barack Obama, der mit dem Versprechen antrat, den Krieg im Irak zu beenden, unter Handlungsdruck geriet. Mit den Luftangriffen auf IS-Streitkräfte wurde er zu einem weiteren US-Präsidenten, der Militäroperationen im Irak angeordnet hat. Ronald Reagan übrigens war der Letzte, der keine Bomben über diesem Land abwerfen ließ.Das bringt uns zu einem neuen Phänomen der geopolitischen Landschaft. Es fehlt an Macht und zwar auf globaler Ebene. Dem Analysten Ian Bremmer zufolge leben wir in einer G-Null-Welt – es gibt keine echte Supermacht mehr, zwei erst recht nicht. Die USA sind schwächer als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seit 1945 und nicht imstande, einen Durchbruch in der Ukraine, Syrien oder Gaza zu erzwingen. Der Niedergang des globalen Goliath kennzeichnet den bisherigen Verlauf des 21. Jahrhunderts. Unsere Welt wird erschüttert. Die Beständigkeit der Religion ist dabei mehr Symptom als Ursache. Das größere Problem ist so alt wie die Menschheit – sowohl die Macht selbst wie das Fehlen von Macht. Manchmal kann Schwäche ebenso gefährlich sein wie Stärke.
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