Wühlen durch Schnäppchenberge

Mehr Süden wagen Italien gilt als Dominostein, dessen Fall den Euro erledigen könnte. Tatsächlich gefallen sind längst andere
Ausgabe 39/2017
Mit der Krise wurden Sonderangebote auch für die Mittelschicht essenziell
Mit der Krise wurden Sonderangebote auch für die Mittelschicht essenziell

Foto: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images

Als Italien im November 2011 vor dem Abgrund stand und Mario Monti Silvio Berlusconi ablöste, unkten die Intellektuellen hierzulande, nun sei es endgültig um das Land geschehen – das müsse jetzt auch den Bürger einleuchten. Der Traum, jeder könnte ein Berlusconi werden? Ausgeträumt.

Doch all den Vorhersagen zum Trotz, in den Abgrund ist das Land doch nicht gerutscht. Es stimmt zwar, die Finanz- und Wirtschaftskrise wütete in Italien so heftig und lang wie kaum anderswo: Sieben Jahre kämpften sich die Italiener durch die Rezession, auf 13 Prozent kletterte die Arbeitslosenquote, unter den Jungen waren im Frühjahr 2014 43,5 Prozent ohne Beschäftigung. Und bis heute sprechen viele in Europa hinter vorgehaltener Hand vom Dominostein Italien: Wenn der kippe, sei es um den Euro endgültig geschehen.

Tatsächlich aber wächst die Wirtschaft wieder und der für sie zuständige Minister Pier Carlo Padoan versichert, das Bankensystem sei stabil. Hat Italien also wieder mal die Kurve gekriegt?

Jein. Wirtschafts- ist nicht gleich Wohlstandswachstum. Am besten ist das auf italienischen Wochenmärkten zu beobachten: Im Laufe der Krise haben sich die Stände für Secondhandkleidung vervielfacht; das Stück kostete da zwischen einem und drei Euro, und plötzlich wühlten sich auch Leute aus der Mittelschicht durch die Schnäppchenberge. Heute ist der Preis gestiegen: Unter fünf Euro pro Kleidungsstück gibt es nichts mehr. Es geht aufwärts.

„Wir sind ein Land, das sich erst dann einen Ruck gibt, wenn es wirklich gefährlich wird“, sagt ein in Italien sehr bekannter Bankier: Roberto Nicastro wurde Ende 2015 mit der Verwaltung der vier zuvor in den Bankrott gestürzten Regionalbanken beauftragt. Er belässt es nicht bei der in Deutschland allzu bekannten Ruck-Rhetorik, sagt mir im Laufe des Gesprächs: „Wir besitzen keinen Nationalstolz, deswegen verkaufen wir uns auch so schlecht.“ Dabei sieht Nicastro allerhand gute Verkaufsargumente: all die Reformen der vergangenen Jahre, trotz der vier verschiedenen Regierungen, die Rente mit 67 unter Mario Monti! „In der EU liegt das Renteneintrittsalter im Durchschnitt bei 63!“ Die „längst fällige“ Arbeitsmarktreform unter Matteo Renzi! Die Franzosen wären dagegen Sturm gelaufen, die Italiener ließen die Rosskur über sich ergehen. Von wegen Dominostein: Mit der Erledigung von Berlin und Brüssel diktierter „Hausaufgaben“ empfiehlt sich Italien als eifriger Musterschüler.

Was zu Hause für Hänseleien anfällig macht: Aus den spätestens im Februar abzuhaltenden Neuwahlen könnten die Euro-Gegner der Fünf-Sterne-Bewegung triumphierend hervorgehen.

Die Jugendarbeitslosenquote liegt heute bei 36 Prozent. Ist das ein Erfolg? Nein, das sind mehr als eine halbe Million Menschen. Italien ist nach wie vor „kein Land für junge Leute“. So sagte es mir 2011 Alessandro Meliadò, ein Bauingenieur Anfang 30. Er ging nach Algerien, um für ein Eisenbahnprojekt zu arbeiten – einer von 250.000 Jungen, die Italien in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben. Fast so viele wie in der Nachkriegszeit. Damals waren es „Gastarbeiter“, heute sind es Gutausgebildete.

Andrea Affaticati lebt in Mailand und arbeitet als Autorin für italienische und deutsche Medien

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