Der Haushalt eines Romanciers im England des 19. Jahrhunderts; der Literatenkreis, zu dem auch sein ewiger Konkurrent Charles Dickens gehört; ein spektakulärer Gerichtsprozess um einen möglichen Erbschleicher, der sich zu einem Kampf zwischen Arm und Reich auswächst; ein schwarzer Hauptzeuge und Ex-Sklave auf einer Zuckerrohrfarm in der Karibik – das ist die brisante Mischung des neuen Romans der britischen Autorin Zadie Smith vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche im viktorianischen England mit seinen Kämpfen um Wahlrecht, Arbeiter- und Frauenrechte und die Abschaffung der Sklaverei.
Von wahren Begebenheiten ausgehend, ist Betrug der erste historische Roman der 1975 in London geborenen Erfolgsautorin mit karibischen Wurzeln, die mit zahlreic
n, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. In ihrem neuen Buch beweist Smith sich wieder einmal als großartige Erzählerin.Die Rente entstammt BlutgeldFrei nach der schriftstellerischen Maxime „Zeigen, nicht sagen“ fällt sie gleich zu Romanbeginn mit der Bibliothek ins Haus: Die kracht – zu schwer – durch die Zimmerdecke, der Schriftsteller William Ainsworth hat offensichtlich bessere Zeiten gesehen, und seine früh verwitwete Cousine Eliza Touchet muss wieder einmal die Scherben auflesen. Seit Jahrzehnten kümmert sie sich um seinen Haushalt: früher um seine junge Frau mit drei kleinen Kindern, später um die deutlich jüngere Magd Sarah, Mutter seiner vierten Tochter und „jetzige Mrs. Ainsworth“, sowie die unverheirateten älteren Töchter. Und nicht zuletzt um sein wackliges Selbstwertgefühl als Autor zahlreicher Romane von moralisch und literarisch zweifelhafter Qualität, von denen alle finanziell abhängig sind.Placeholder image-1In auffällig kurzen szenischen Kapiteln von meist ein bis drei Seiten setzt sich der Roman wie ein Mosaik zusammen. Dabei verzahnt die Autorin auf wechselnden Zeitebenen Ereignisse in England und der Karibik von etwa 1830 bis Ende der 1870er. Mit großem Sinn für Details und lakonischem Witz legt sie dabei geschickt Fährten aus, um die erzeugte Neugier dann mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit ganz nebenbei zu befriedigen.Betrug nimmt den historischen Tichborne-Fall auf, der sich in London zu einem Publikumsmagneten entwickelte: Die Frage war, ob der seit einem Schiffbruch verschollene Sohn und Erbe der reichen Lady Tichborne tatsächlich zurückgekehrt war oder ob sich ein Betrüger für ihn ausgab. Im Roman sind Eliza Touchet und die ungebildete, in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsene Sarah regelmäßig unter den Zuschauern des Prozesses, bei dem es auch darum geht, wessen Wahrheit die gültige ist. Selbst als sich der Erbanwärter zunehmend in Lügen verstrickt, wollen sich die Zuschauer die „karnevalistische Komödie“, die vom Elend ablenkt, „nicht verleiden oder nehmen lassen“. Längst ist der Prozess auch Politikum mit der Forderung, dass das Recht nicht durch die Mächtigen verbogen werden darf.In Williams „jamaikanischem Roman“ kommt das Leben in der Karibik nur als Randnotiz und naive Postkartenidylle vor. Diesem kolonialen Diskurs setzt Betrug die Lebensgeschichte und Stimme des schwarzen Ex-Sklaven Andrew Bogle entgegen, der im Prozess einer der Hauptzeugen ist. Bogle wuchs als Sklave auf der Zuckerrohrplantage Hope in Jamaika auf. Als Kammerdiener des Verwalters kommt er nach England, wo er versucht, sich als „guter Schwarzer“ ein Leben aufzubauen. Er tut das derart diszipliniert, dass sich selbst seine Herrschaft misstrauisch fragt, was er mit seiner Wut macht – eine der besten Szenen im Buch, die mit einer blutigen Hand um ein zerbrochenes Weinglas endet.Bogles Blick bei seinem ersten Aufenthalt in England ist dabei auch die Perspektive des Anderen auf die britische Gesellschaft, in der der Reichtum Einzelner so groß ist wie die unvermutete Armut der vielen. Dabei fokussiert der Roman die Vielfalt und Art der Präsenz von Schwarzen in der englischen Gesellschaft. Aber auch die Unfreiheit aller in einer Gesellschaft, in der man riskiert, als Sträfling nach Australien verschickt zu werden, „wenn man nur ‚One man, one vote‘ sagte. Oder sich über die Brotpreise beschwerte“.Eliza Touchet wird im Literatenzirkel ihres Cousins amüsiert als „Verfechterin der Frauen und Fürsprecherin der Sklaven“ gefeiert. Aber auch sie bleibt ein Kind ihrer Zeit, das etwa Williams Töchtern vorwirft, nicht geheiratet zu haben. Ihre Rente stammt aus Blutgeld aus dem Baumwollhandel, und als Bogles Sohn ihr helfend seine braune Hand entgegenstreckt, zuckt sie kurz zurück, „aus Gründen, die sie sogar vor sich selbst verborgen hielt“.Smiths Roman ist ein großer Wurf, der Liebe und Freundschaft, Wahrheit und Lüge, Kolonialismus und seine Auswirkungen, Klassenkampf, Streben nach Freiheit und natürlich das titelgebende Thema miteinander verzahnt: Betrug auf den verschiedensten Ebenen, darunter der Romanautor, der „lügt, um die Wahrheit zu sagen“. Immer wieder finden sich Bezüge zur Beziehung von Literatur und Realität, etwa als William seine strengste Kritikerin, die auf dem Nachttisch einen Romanentwurf mit dem Titel „Betrug“ liegen hat, ansieht, „als zöge er sie als literarische Figur in Betracht“. Kurz: Zadie Smiths neuer Roman ist auch ein wunderbares Verwirrspiel und trotz der teils schmerzhaften Thematik ein großes Lesevergnügen.Placeholder infobox-1