Man stelle sich einmal vor, einer der wichtigsten Vorkämpfer der deutschen Friedensbewegung, Alfred Hermann Fried, würde aus der Kaiserzeit in das Deutschland des 21. Jahrhunderts versetzt. Der Friedensnobelpreisträger von 1911 müsste sich wie in einem pazifistischen Paradies vorkommen. Die einstige Militärmacht lebt seit Jahrzehnten friedlich mit ihren Nachbarn zusammen, ist Mitglied eines europäischen Staatenbundes mit teilweise gemeinsamer Währung. Und seine Wirtschaft ist so eng mit der ganzen Welt verflochten, dass der „Exportweltmeister“ größtes Interesse daran haben muss, friedlich mit möglichst allen Staaten zu handeln. Frieds damalige Vision, die er „wissenschaftlichen“ oder „organisatorischen Pazifism
ismus“ nannte, scheint heute so gut wie verwirklicht. Dass einem die Welt weiterhin alles andere als friedlich vorkommt, macht deutlich, wie sich die Konzepte von Frieden wandeln.Der Begriff Pazifismus wurde erst 1901 erfolgreich in der politischen Debatte etabliert. Zuvor nannten sich die Anhänger der Friedensbewegung Friedensfreunde, Föderalisten oder Internationalisten. Diese Bezeichnungen geben schon einen Hinweis darauf, wie man glaubte, das Ziel eines dauerhaften Friedens umsetzen zu können. Der Traum von den „Vereinigten Staaten von Europa“ gehörte schon im 19. Jahrhundert dazu, ebenso die Vorstellung, die „zwischenstaatliche Anarchie“ durch internationale Gerichtshöfe zu verrechtlichen. Eine weitere Strömung innerhalb der frühen Friedensbewegung setzte auf die Macht des Freihandels, der nach Ansicht des englischen Unternehmers Robert Cobden die Möglichkeit besaß, „das Gift des Krieges auszurotten; er allein werde den Menschen die Freude an der Zivilisation bringen“.Gewalt für den FriedenTrotz theoretischer Vorarbeiten, darunter auch Kants einflussreiche Schrift Vom ewigen Frieden, stand am Beginn der Friedensbewegung in Deutschland „der larmoyante Roman einer sehr feinfühligen und sehr weltfremden Frau“, wie Carl von Ossietzky 1924 wenig charmant bemerkte. In der soeben erschienenen Quellensammlung Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892–1992 (Klartext Verlag Essen 2010) heißt es dagegen: Bertha von Suttners im Jahre 1889 erschienener Erfolgsroman Die Waffen nieder! „kann nicht hoch genug bei der Entstehung und Entwicklung des organisierten Pazifismus in Deutschland bis 1914 angesehen werden“. Beide Strömungen, die Ablehnung des Krieges aus moralischen sowie aus utilitaristischen Motiven sind weiterhin präsent. Teilweise bekämpften sich deren Vertreter in der Geschichte auch gegenseitig.Schon Fried störte sich damals am „sentimentalen Pazifismus“ Suttnerscher Prägung. Er erhoffte sich mehr von der zunehmenden Dichte der zwischenstaatlichen Organisation, dem Ausbau der wirtschaftlichen Verflechtung und einer größeren internationalen Kommunikation. Mit anderen Worten: Frieden durch Globalisierung. Als Titelsignet für seine Zeitschrift Die Friedens-Warte wählte Fried folgerichtig weder Taube noch Ölzweige, Engel oder zerbrochene Schwerter, sondern ineinandergreifende Zahnräder. Damit sollte das „Zusammenwirken zu einem gemeinsamen Zweck“ sowie „die Kraft der Ordnung durch den Geist“ veranschaulicht werden.Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete für die Pazifisten jeder Couleur den Zusammenbruch ihrer Utopie. Weder Appelle noch die tatsächlich vorhandenen zwischenstaatlichen Beziehungen vermochten, das Gemetzel zu verhindern. Schon zu Beginn des Krieges erkannten die Pazifisten, dass eine Demokratisierung Deutschlands für eine friedlichere Zukunft unabdingbar war. Sie verzweifelten aber nicht nur am Krieg, sondern auch am anschließenden Versailler Vertrags. Nach Ansicht des bürgerlichen Pazifisten Ludwig Quidde zerstörten die Friedensbedingungen „die Voraussetzungen internationaler Verständigung und des Völkerbundes“.Nach den Erfahrungen des Weltkrieges radikalisierten sich Teile der Friedensbewegung, traten in einen aktiven Kampf gegen Militarismus und Rüstung ein und propagierten die Mittel der Kriegsdienstverweigerung und des Generalstreiks. Auch Sozialisten und Pazifisten näherten sich an. Die wirtschaftlichen Interessen im kapitalistischen System wurden nun stärker als Kriegsgrund gesehen. Die Gruppe Revolutionärer Pazifisten um Kurt Hiller forderte daher die Durchsetzung des Sozialismus als einziger Möglichkeit, den Frieden zu sichern. Dabei schloss Hiller auch Gewalt nicht aus: ein letztes Mittel, um dauerhaften Frieden zu verwirklichen.Die Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland führte bei vielen Pazifisten zum Umdenken. Auch der langjährige Vorsitzende der Deutschen Liga für Menschenrechte, Hellmut von Gerlach, änderte seine Überzeugung, was etwa die Abrüstung betraf: „Was vor Hitler erlaubt oder sogar gut war, kann unter Hitler zu einem Verbrechen am Pazifismus werden, nämlich zu einer Ermunterung seiner Gewaltpolitik und damit zur Erhöhung der Kriegsgefahr führen.“ Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überraschte die Pazifisten nicht. Seine Folgen übertrafen jedoch die schlimmsten Befürchtungen.Händel für den HandelDie Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sollten den pazifistischen Diskurs über die Jahrzehnte des Kalten Krieges bestimmen. Die Frage nach einer Rechtfertigung des Krieges, dem gerechten Krieg, stellte sich nicht mehr, wenn am Ende die ganze Erde in einem „atomaren Holocaust“ zerstört werden sollte. Mit dem Streit um den Nato-Doppelbeschluss konnte die deutsche Friedensbewegung wieder hunderttausende Bürger mobilisieren. Das Ende des Ost-West-Konflikts beseitigte zwar die Drohung eines atomaren Untergangs, machte Kriege jedoch wieder kalkulierbarer. Die alte Frage nach „pazifistischer Gewalt“ drängte sich erneut auf. Besonders augenfällig für eine Partei wie Die Grünen, als sie nun in der Lage war, von dieser Gewalt Gebrauch zu machen – und unter ihrem Außenminister Joschka Fischer 1999 die Bombardierung Serbiens mittrug.Das Bild der Gegenwart prägen Bürgerkriege und asymmetrische Kriege ebenso wie der Kampf gegen den Terrorismus. Eine Kriegsgefahr scheint eher von einem Regime wie in Nordkorea auszugehen, das außerhalb des weltweiten Handels- und Kommunikationssystems steht. Das Deutsche Kaiserreich zeigte aber auch, dass selbst ein wirtschaftlich stark verflochtener Staat schwer berechenbar ist, wenn er militaristisch und undemokratisch geprägt ist. Gefährlich wird es auch, wenn Politiker wie Ex-Bundespräsident Horst Köhler davon sprechen, den Welthandel mit Waffengewalt sichern zu müssen. Dass ein deutsches Staatsoberhaupt wegen solcher Sätze einmal zurücktreten würde, hätte sich Fried in seinen kühnsten Träumen wohl nicht vorzustellen vermocht.