Zauberformel Organizing

Arbeit Viele neue Mitglieder, belastbare Tarifverträge und ein ganz anderer Schwung: Die Gewerkschaften im Osten erleben einen Aufschwung
Ausgabe 52/2015

Ostdeutschland zu Beginn des Jahrtausends: ein Traumland für Unternehmer. Die Arbeitslosenquote lag bei 18 Prozent, die Löhne waren im Keller. Gut ausgebildete Facharbeiter gab es immer noch genügend. Bundesländer wie Sachsen oder Thüringen warben sogar mit ihrem Lohnniveau weit unter dem Bundesdurchschnitt. Wer einen Job hatte, hielt die Füße still. Wer nicht mitmachte oder aufmuckte, der konnte gehen. Draußen warteten genug andere.

Den Gewerkschaften traute kaum jemand zu, an dieser Situation etwas zu ändern. Wie auch? Die Beschäftigten machen die „Westgewerkschaften“ zumindest mitverantwortlich für die verfahrene Situation. Nach der Wende hatten sie den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) der DDR mit wehenden Fahnen übernommen – aber gegen Deindustrialisierung und Arbeitsplatzabbau konnten sie nichts ausrichten. Millionen traten aus, innerhalb von anderthalb Jahrzehnten sank der Organisationsgrad in Ostdeutschland von 50 auf 18 Prozent.

30.000 Köpfe mehr

Ostdeutschland 2015: Von Niedergang möchte Wolfgang Lemb heute nicht mehr sprechen. Im Gegenteil, von Rückenwind und Aufbruchstimmung ist die Rede. Für Lemb, der im geschäftsführenden Vorstand der IG Metall sitzt, hat sich die Situation in Ostdeutschland grundlegend zum Besseren gewandelt. 30.000 neue Mitglieder hat die Gewerkschaft seit der Krise 2008 gewonnen. Sicher, von der 35-Stunden-Woche ist man im Osten immer noch ein gutes Stück entfernt, doch in den letzten Jahren wurden viele neue Tarifverträge abgeschlossen. Lemb, der seit Anfang der 1990er Jahre als Gewerkschaftssekretär in Ostdeutschland arbeitet, ist im Großen und Ganzen zufrieden mit der Entwicklung.

Sind 25 Jahre nach der Erlangung der staatlichen Einheit endlich „die gleichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in ganz Deutschland hergestellt“, wie es im Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR 1990 hieß? Mitnichten. Regionale Unterschiede sind immer noch enorm. Zwar hat sich die Arbeitslosigkeit in den letzten zehn Jahren im Osten mehr als halbiert, aber ein Großteil der neu entstandenen Jobs ist prekär. Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Situation vor einem Jahrzehnt: Die Leute engagieren sich wieder. Sie treten in Gewerkschaften ein, einige bilden Aktivengruppen und streiken sogar ziemlich oft. „Da ist ein deutlicher Rückenwind“, sagt Klaus Dörre, Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Leute, die jahrelang die Schnauze gehalten haben, werden selbstbewusster. Und in den lange als fremd- und westbestimmt wahrgenommenen Gewerkschaften finden sie einen Rückhalt. Dörre hat mit einem Forscherteam die Ursachen für den neuen „Rückenwind“ untersucht. Das Ergebnis: Hintergrund für das Revival der Gewerkschaften ist – Ironie der Geschichte – in erster Linie die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft.

Der industrielle Boom der letzten Jahre, verbunden mit Ausbildungsmisere und Abwanderung von Ost nach West, hat den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland völlig verändert. Unternehmen suchen, Facharbeiter können aussuchen. Für die verbliebenen Lohnabhängigen im Osten ist das ein Segen. An wenigen Orten wird diese Entwicklung deutlicher als in Leipzig, der Boomtown der deutschen Automobilindustrie, mit den Premiummarken BMW und Porsche. 18.000 Arbeitsplätze sind hier im letzten Jahrzehnt in der Autoindustrie entstanden. Die meisten allerdings bei Leiharbeitsfirmen und „Industriedienstleistern“, die sich wie ein Asteroidenschwarm um die Endmontagefabriken der Hersteller gruppieren und mit befristeten Werkverträgen in deren Produktionsabläufe eingebunden sind.

Noch 2008 waren hier Stundenlöhne unter sechs Euro brutto keine Seltenheit. Heute werde im Automobilcluster Leipzig nirgends mehr weniger als zehn Euro die Stunde gezahlt, heißt es bei der örtlichen IG Metall. Das ist zwar immer noch 20, 30 Prozent unter dem Flächentarifvertrag und weit entfernt von den Standards der Stammbeschäftigten bei BMW und Porsche. Die Jobs bleiben in vieler Hinsicht prekär, die Werkvertragsunternehmen sind komplett abhängig vom Auf und Ab der Produktion bei BMW und Porsche. Geht es aufwärts, müssen Sonderschichten gefahren werden. Da kann es schon schwierig werden, das Wochenende zu planen, von einer längerfristigen Lebensplanung ganz zu schweigen.

Die Hersteller schreiben ihre Werkverträge alle paar Jahre neu aus, und selbst wer einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat, kann sich nicht sicher sein, dass sein Arbeitgeber bei der nächsten Runde noch im Spiel ist. Und doch: Zehn Euro die Stunde, abgesichert durch Tarifverträge, überwacht von Betriebsräten, die eingebunden sind in überbetriebliche gewerkschaftliche Netzwerke – das ist durchaus eine völlig neue Situation.

Modisch? Na und!

Fahren die Gewerkschaften nur die Ernte des Wirtschaftsbooms ein? Nein, die Mitgliederzuwächse haben auch etwas mit einem veränderten Zugang zu den Beschäftigten zu tun: So unterstützte die IG Metall gezielt die Bildung betrieblicher Aktivenkreise bei den Werkvertragsunternehmen, initiierte Betriebsratswahlen in bislang mitbestimmungsfreien Unternehmen. Das alles mit dem Ziel, die Industriedienstleister nach und nach über Haustarifverträge „einzufangen“. Projektsekretäre wurden eingestellt, die sich gezielt um die Erschließung der „weißen Flecken“ auf der Tariflandkarte kümmerten. Organizing und Beteiligungsorientierung hießen die neuen Zauberformeln. Auch wenn sie mitunter wie modische Marketinginstrumente zur Mitgliederbewerbung benutzt wurden: Unterm Strich haben Hunderte von Beschäftigten in zahlreichen Betrieben angefangen, gemeinsam etwas zur Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebenssituation zu tun.

Und damit ist nicht gemeint, auf ein Zeichen aus dem Gewerkschaftsbüro für 15 Minuten mit Trillerpfeifen vor das Werktor zu gehen. Gerade weil Gewerkschaften im Osten lange so schwach aufgestellt waren, mussten sich die wenigen, die in den letzten Jahren oft unter persönlichen Risiken in den Betrieben Aktivengruppen aufbauten, von Anfang an mit strategischen Fragen auseinandersetzen. Genau das dürfte auf mittlere Sicht für die Gewerkschaft selbst ein wohltuend demokratisierendes Element sein.

Illustrationen zu dieser Ausgabe

Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem vorigen Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler

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