Zielmarke Europawahlen 2004

POLEN UND EU Außenminister Wladyslaw Bartoszewski über ein pro-europäisches, pro-amerikanisches, pro-atlantisches, pro-französisches Polen, das noch immer zwischen Deutschland und Russland liegt

Im Juni 2000 übernahm Wladyslaw Bartoszewski nach einer schweren Krise der Regierung Buzek als parteiloser Politiker das Ressort des Außenministers, als der er bereits 1995 neun Monate amtiert hatte. Doch wird es Bartoszewski kaum vergönnt sein, in diesem Amt Polen 2003 oder 2004 in die EU zu führen. Bei den im Herbst anstehenden Parlamentswahlen zeichnet sich ein Regierungswechsel zugunsten der Demokratischen Linken (SLD) ab. Über Polens bisherigen Weg von Ost nach West seit 1989/90 gab der Minister im März der Warschauer Zeitschrift Wiez ein Interview. Wir dokumentieren Ausschnitte.

WIEZ: Zuweilen entsteht der Eindruck, in der Außenpolitik gäbe es ein fast absolutes Einverständnis zwischen Opposition und Regierung, zumindest hinsichtlich der Hauptziele. Ein richtiger Eindruck? WLADYSLAW BARTOSZEWSKI: Wir leben in einem Staat, der in vielerlei Hinsicht selbstverständlich nicht völlig stabil ist. Wäre ich etwa Justizminister, müsste ich mir über die Rechtssicherheit bei uns oder das organisierte Verbrechen Sorgen machen. Aber in der Außenpolitik Polens hat es seit 1990 - obwohl mehrmals die Regierungen wechselten - keine größeren Erschütterungen gegeben. Als Beispiel sei nur der Antrag zur EU-Aufnahme genannt. Er wurde von Waldemar Pawlak, einem Premierminister der Bauernpartei PSL gestellt (*). Bekanntlich ist die PSL eine politische Erscheinung, die ungemein vorsichtig wegen der Beitrittskonditionen agiert. Aber allein schon der Umstand, dass Polen unter dieser Regierung den Antrag stellte, spricht für eine gewisse Stabilität.

Stabilität auch im Verhältnis zu den Nachbarn?

Das hängt immer von zwei Seiten ab. Mit Deutschland haben wir gute Beziehungen, wenngleich es hier Zeiten von Erwärmung und leichter Abkühlung gibt. Man könnte das mit einer Sinuskurve vergleichen. Bei Russland gab es 1993 nach dem Rückzug aller Truppen - ein wichtiges Ereignis, denn mehr als drei Jahrhunderte lang, mit einer kleinen Pause zwischen 1918 und 1939, waren immer irgendwelche fremden Armeen auf polnischem Territorium - starke Ausschläge dieser Sinuskurve nach oben und nach unten: Auf Erwärmung folgte herbe Abkühlung. Aber im Prinzip sind die Beziehungen zu Russland nicht schlecht.

Demnach sind aus dem traditionellen Politik-Wörterbuch Begriffe wie Todfeindschaft oder Einflusszonen zu streichen.

Sie sind nicht gestrichen worden, sondern wurden weitgehend modifiziert. Ich gehöre der gleichen Generation an wie der Heilige Vater. Geboren wurde ich kurz nach dem Ersten Weltkrieg 1922, habe also in meinem Leben sehr viele Vorgänge erlebt, bei denen der Begriff Todfeindschaft eine Schlüsselrolle spielte. Heute wird die Frage gestellt: Sind wir in Europa von einer solchen Denkweise abgewichen? Man könnte sagen: Ja, doch ich bin mir nicht sicher, wie sich heute Armenier und Türken sehen oder Iren und Engländer. Offensichtlich gibt es in diesen Gesellschaften militante Tendenzen und Neigungen, gewisse Nationen als Todfeind zu betrachten. Wenn ich mir Polen anschaue, sehe ich kein Syndrom einer Todfeindschaft gegenüber irgendeiner Nation, auch nicht gegenüber der deutschen. In einem gewissen Maße trifft das ebenso auf die Feindschaft zu, die ein Teil der Polen gegen die Juden hegt. Auch diese Aggressivität besitzt nicht den Charakter von Todfeindschaft, mit Ausnahme von Personen, die sich an der Grenze zur Anormalität befinden.

Ist es gelungen, die russische Haltung zu unserer Unabhängigkeit zu ändern?

Ich glaube, es wird mehr als eine Generation dauern, bis sich einige Politiker und ein Teil der russischen Bürger von der Vorstellung lösen, Polen sei ihr verlorenes Land. Allerdings können auch wir uns nicht so schnell von Denkstereotypen trennen. Wenn ich sagte, wir sehen in Deutschland nicht mehr unseren Todfeind, heißt das nicht, dass über Deutsche nicht weiter in Kategorien des persönlichen Leids gedacht wird. Trotzdem ist Versöhnung möglich. Dabei spielten die Evangelische und die Katholische Kirche in Deutschland eine sehr wichtige Rolle. Darüber weiß und spricht man in Polen sehr wenig. Wir haben zu Recht den 30. Jahrestag des Besuches von Willy Brand in Warschau gewürdigt. Schade nur, dass wir nicht auch den Tag ehrten, an dem die polnischen Bischöfe im November 1965 ihren Hirtenbrief an die deutschen Bischöfe sandten. Als in Tschenstochau - auf Bitten von Kardinal Wyszynski - die polnischen Gläubigen niederknieten und riefen: Wir vergeben! Heute üben polnische und deutsche Soldaten gemeinsam auf dem Manöverfeld in Drawsko, und niemand in Polen sieht darin etwas Schlechtes.

Haben Sie den Eindruck, Russland findet sich damit ab, dass Polen ein normaler, souveräner Staat ist?

Es gibt absolut nichts, was mich zu einer Verneinung veranlassen könnte.

Da gibt es aber auch noch Königsberg.

Das ist eine besondere Angelegenheit. Dieser Bezirk ist die einzige russische Exklave, mit der Polen eine gemeinsame Grenze hat. Wir haben gute regionale Beziehungen. Nur wenige in Polen wissen beispielsweise, dass polnische Reiseunternehmen aus der Küstenregion die deutschen Touristen nach Königsberg bringen. Klar ist aber, dass der spezielle Territorial- und der Transitstatus dieses Gebietes auch für Probleme sorgt. Nicht nur Polen, ganz Europa muss sich daher überlegen, wie dies zu lösen ist.

Sie haben es erwähnt, eine Gefahr für den Ruf Polens ist der Antisemitismus. Wir denken an die Angriffe, die unlängst ein Abgeordneter in der Knesset an die Adresse Polens richtete. Exakt zur gleichen Zeit begann die Debatte über das Jedwabne-Buch (bezieht sich auf die Ermordung von 1.600 Juden 1941 durch polnische Einwohner der Stadt Jedwabne, s. Freitag, 14/2001 - die Red.) von Jan Tomasz Gross. Wie gehen Sie mit diesem Thema um?

Polen hat enorme demokratische Fortschritte zu verzeichnen. Das gilt auch für die Freiheit des Wortes. Wenn es um Jedwabne geht, dann hörte ich in allgemeinen Umrissen von dieser Sache bereits in den sechziger Jahren. Diese Tat darf jedoch nicht dem ganzen polnischen Volk angelastet werden, wobei es wie bei jedem dieser Fälle eine Gesellschaft belastet, die erzieherisch nicht stark genug einwirkt. Die momentanen Beziehungen zu Israel sind mustergültig. Ich nehme es daher den Journalisten übel, die sich bei ihren Berichten über die von Ihnen angeführte Knesset-Sitzung allein auf die einzige skandalöse Aussage eines Extremisten beriefen. Mehrere große Reden wie die von Nobelpreisträgers Shimon Peres wurden einfach übergangen. Ebenso mein Gespräch mit dem israelischen Präsidenten oder mit dem Oberrabbiner von Jerusalem, der übrigens aus dem polnischen Piotrkow stammt. Ich sehe das mit Gelassenheit. Noch vor Jahren hätte ich nicht vermutet, dass unsere Beziehungen zu Israel so gut sein könnten.

Bei allem, was wir bisher gehört haben, sieht es nirgends schlecht aus: Polen hat normale Beziehungen zu Russland, ausgezeichnete mit anderen Nachbarn, es wird vom seriösen israelischen Politikern nicht des Antisemitismus angeklagt. Polen hört auch in der NATO aufmerksam zu - nur bei der EU-Aufnahme geht es nicht vorwärts. Ist nach dem Gipfel von Nizza da manches klarer?

Klar wurde, dass die EU-Länder begriffen haben, es ist ein Fehler, überhaupt keine Schritte in Richtung Erweiterung zu machen. Ob Nizza ausreicht, steht auf einem anderen Blatt.

Was erwarten Sie?

Wir halten uns an den Termin 1. Januar 2003. Es gibt jedoch einflussreiche politische Gruppen, die sagen, eine kleine, mehrmonatige Verzögerung wäre kein Unglück. In Nizza wurden die Jahre 2003 und 2004 genannt. Ein Beitritt 2004 bedeutet für Polen Teilnahme an der Europawahl.

Paris nimmt uns offenbar die guten Beziehungen zu den USA inzwischen übel. Führt unser Pro-Amerikanismus dazu, dass Frankreich de facto zu unserem Gegner wird?

Diese Theorie existiert besonders unter Journalisten. Ich jedoch glaube nicht, dass wir unsere traditionell guten Beziehungen zu den Amerikanern so einfach aufgeben können, weil es zwischen den alten, sich bestens kennenden NATO-Staaten Ranküne und Ambitionen gibt. Dank der Deklaration von Präsident Wilson aus der Zeit des Ersten Weltkrieges wurde der polnische Staat wieder errichtet - das dürfen wir nicht vergessen. Unsere Aufgabe ist es, pro-französisch, pro-amerikanisch, pro-europäisch, pro-atlantisch zu sein. Befreunden muss man sich eben mit denen, die Polen bei bestimmten Themen unterstützen können.

Übersetzung Michael Schmelz

(*) Zwischen 1993 und 1997 regierte eine Linkskoalition aus der Bauernpartei (PSL) und dem Demokratischen Linksbündnis (SLD).

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden