FREITAG: Herr Narr, Sie plädieren für eine weit reichende Patientenverfügung und argumentieren mit dem Grundrecht auf Selbstbestimmung. Allerdings treffen wir unsere Entscheidungen doch nie ganz abgelöst von sozialen oder ökonomischen Bedingungen. Warum wollen Sie dennoch am Ideal eines autonomen Subjekts festhalten, das vorausblickend über sein Lebensende entscheiden kann?
WOLF-DIETER NARR: Die Selbstbestimmung als normativer Wert - nicht als Ideal - ist ganz zentral für den Menschen. Alles, was mit Demokratie und Menschenrechten zu tun hat, konzentriert sich darauf, dass wir selbst über uns bestimmen können und nicht am Tropf von X oder Y hängen. Insofern ist Selbstbestimmung gar nicht in Frage zu stellen, sondern es geht darum, wie sie am besten umzusetzen ist. Wir wissen um die Situation in den Pflegeheimen - und ich selbst habe über ein Jahrzehnt lang meine Mutter im Pflegeheim mitversorgt, kenne mich also gut mit der Situation dort aus. Es darf nicht sein, dass Ärzte oder Pflegepersonal über Menschen am Lebensende verfügen können. Obwohl ich kein Christ bin, zitiere ich gerne diese wunderbare Stelle aus dem 90. Psalm: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden." Klug werden heißt aber nicht sterbensklug, sondern lebensklug.
Frau Feyerabend, im frauenbewegten Milieu, aus dem Sie stammen, war gerade das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper einmal ein hoher Wert. Weshalb stehen Sie dem selbst bestimmten Verfügungsrecht über das Lebensende so ablehnend gegenüber?
ERIKA FEYERABEND: Selbstbestimmung ist ein großer, aber auch ein sehr interpretationsoffener Begriff, der sich nicht von selbst versteht. Deshalb kann man nicht über abstrakte Selbstbestimmung, sondern nur konkret, in diesem Fall also nur über die Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Patientenverfügungen sprechen. Ich glaube, dass die Vorstellung, über sich selbst bestimmen zu können, wenn man krank oder körperlich eingeschränkt ist, an den institutionellen Realitäten vorbeigeht und somit auch das, was man in Patientenverfügungen festlegen kann. Sie bestimmen für den Fall, dass ich mich nicht mehr äußern kann, wie ich behandelt beziehungsweise nicht behandelt werden will. Patientenverfügungen sind Willensbekundungen zum Verzicht. Im Kern geht es nicht um die Frage einer guten Versorgung, sondern um eine Behandlung zum Tod, indem die Versorgung - zum Beispiel die Ernährungs- und Flüssigkeitszufuhr - beendet wird.
WOLF-DIETER NARR: Ich wehre mich dagegen, dass Selbstbestimmung im Sinne eines Ideals interpretiert wird, als die Illusion eines weltfremden Menschenrechtlers. Selbstbestimmung ist, wie gesagt, die zentrale Norm, die Sie alle - behaupte ich - für sich beanspruchen. Und wir müssen die sozialen Bedingungen schaffen, dass möglichst alle Menschen dieser Norm gerecht werden können. Zum anderen geht es bei der Patientenverfügung eben nicht um Sterbehilfe, sondern darum, dass jeder Mensch potenziell in eine Situation kommen kann, in der er sich nicht mehr äußern kann und sich dennoch gegen Eingriffe in seinen Körper und seinen Verstand absichern möchte. Eine Patientenverfügung eröffnet diese Möglichkeit, vorausgesetzt, dass sie differenziert aufgesetzt ist, immer wieder erneuert wird und eine, möglichst zwei Vertrauenspersonen benannt werden, die im Notfall für einen sprechen. Natürlich sollten diese Bevollmächtigten nicht allein entscheiden, sondern in Konsultation mit Ärzten und Pflegenden. Aber letztendlich muss die Entscheidung des betroffenen Patienten verbindlich sein. Sonst besteht die Gefahr, dass ihm eine Behandlung zuteil wird, die er nie haben wollte.
ERIKA FEYERABEND: Die Vorstellung, dass Ärzte, Pflegende und Angehörige sich zusammensetzen und überlegen, was zu tun ist, finde ich durchaus freundlich. Aber sie ist ein Ideal, sie hat mit der Realität in den Krankenhäusern und Altenheimen nichts zu tun.
WOLF-DIETER NARR: Aber, Frau Feyerabend, was haben Sie denn dagegen anzubieten? Dass im Pflegeheim die Schwester X oder der Pfleger Y in kurzer Absprache mit dem Arzt darüber entscheidet, dass einer Patientin eine Magensonde gelegt und sie künstlich ernährt wird? Das ist die Realität, und derzeit gibt es keine Verpflichtung, dass sie sich vorher mit denjenigen Menschen besprechen, die der Patientin nahe stehen.
ERIKA FEYERABEND: Nein, das will ich auch nicht. Aber ich möchte, dass die Verantwortung der beteiligten Menschen aufrechterhalten wird und sie ihre Entscheidungen möglichst zum Wohl des Patienten treffen und sie nicht auf eine Willensäußerung verschieben können, die in einer Zeit vorgenommen wurde, in der der Betroffene nicht in dieser Situation war.
WOLF-DIETER NARR: Sie sprechen von Verantwortung - übrigens auch ein idealer Begriff. Deshalb muss geklärt sein, wer was wann verantwortet. Zur Selbstbestimmung gehört die Gewissheit, dass sie mir - auch in Zukunft - nicht genommen werden kann, weder von Ärzten, Pflegenden oder Krankenversicherern. Die sollten mitreden, aber nicht die endgültige Entscheidung treffen können.
ERIKA FEYERABEND: Aber es geht doch um die Effekte, die eine gesetzliche Absicherung von Patientenverfügungen haben können. Wollen wir es juristisch ermöglichen, durch so genannte passive Maßnahmen wie die Unterlassung von Ernährung einen Menschen zu Tode zu bringen? Damit wird das gesellschaftliche Tötungstabu zur Disposition gestellt. Und zwar nicht im individuellen Fall, denn es geht in der politischen Diskussion immer um Patientengruppen, konkret um die Gruppe der Koma-Patienten und auch um Demenzkranke und Schwerstpflegebedürftige. Wir sollten keine Entscheidungssituationen schaffen, wo es durch Unterlassung - von Nahrungs- und Flüssigkeitsgaben, von Hilfeleistungen oder medizinischer Behandlung - möglich wird, uns dieser Patientengruppen zu entledigen.
WOLF-DIETER NARR: Nein, im Gegenteil, individuelle Patientenverfügungen verhindern, dass solche Patientenkollektive entstehen und als solche behandelt werden. Ich bitte darum, auf diese Polemik zu verzichten: Es geht seriösen Vertretern der Patientenverfügung nicht darum, dass ganze Gruppen aussortiert und rasch in den Tod befördert werden. Es ist eine Stärke und eine Schwäche von Patientenverfügungen, dass sie personenbezogen sind und dennoch soziale Prozesse in Gang setzen.
Gerade im Falle von Demenzkranken machen Pflegende immer wieder die Erfahrung, dass sie sehr am Leben hängen. Von Wachkomapatienten ist bekannt, dass sie unter Umständen in ihrer eigenen Wirklichkeit leben, die sie nicht kommunizieren können. Das heißt, niemand weiß, wie er in einer solchen Situation lebt und fühlt. Dennoch müsste man, wenn die Reichweite von Patientenverfügungen ausgedehnt wird, entsprechende Erklärungen zum Tode vollziehen.
WOLF-DIETER NARR: Es gibt - und wer das nicht sagt, lügt - in diesem Bereich eine ganze Reihe von Schattenlinien, Grenzbezirken, Zonen der Unsicherheit. Wenn der betreffende Mensch Signale aussendet, die darauf schließen lassen, dass er oder sie leben will, ist man im Bereich der Interpretationen. Es geht ja gerade darum, dass eine oder zwei Personen aus dem näheren Umfeld bestimmt werden, die gegebenenfalls stellvertretend entscheiden.
ERIKA FEYERABEND: Aber was dürfen sie entscheiden?
WOLF-DIETER NARR: Das Verfahren ist abgestuft: Es werden in der Patientenverfügung die Personen genannt, die im Konsens mit Ärzten und Pflegepersonal im Sinne des Patienten entscheiden sollen.
Könnte diese Gruppe sich eventuell auch im Konsens gegen die Patientenverfügung entscheiden?
WOLF-DIETER NARR: Nein.
Wozu ist die Gruppe dann da?
WOLF-DIETER NARR: Aus demselben Grund, aus dem Gesetze interpretiert werden müssen. Weil alles, was Menschen sagen, interpretationsoffen ist und es drauf ankommt, wie man es interpretiert.
ERIKA FEYERABEND: Krankheit verändert den Menschen. Er lernt, unter Umständen mit Einschränkungen zu leben, die er sich nicht vorstellen konnte. Bei den derzeit debattierten Vorschlägen geht darum, einen Tod herbeizuführen, der eine Lebenssituation beendet, die man als "unwürdig" oder nicht gewollt ansieht. Dabei sind wir laufend damit konfrontiert, dass gesagt wird, der Sozialstaat sei nicht aufrecht zu erhalten, überall ist von zu teuren Alten die Rede. Mit solchen Reden haben sich auch alte Menschen in den Heimen auseinanderzusetzen. Ein Großteil der Magensonden in Pflegeheimen ist individuell nicht notwendig, sondern eine rationierende Maßnahme. Aber an der Magensonde wird durchexerziert, was juristisch erlaubt sein soll. Es besteht die Gefahr, dass Behandlungsbegrenzung zur Normalität wird und zu viele Anschlüsse ökonomischer Art eröffnet werden.
WOLF-DIETER NARR: Wir können uns, glaube ich, schnell darüber einigen, dass mit der demografischen Situation und mit der Angst vor dem Pflegeheim Panik geschürt wird. Ich bin im Hinblick auf die aktuelle Situation möglicherweise sogar skeptischer als Sie. Das ist ein Grund, weshalb ich auf Selbstbestimmung solchen Wert lege. Wie kann man dem "medizinischen Komplex" gegenüber ein Stück Selbstbestimmtheit bewahren? Ich würde gern auf jede Verrechtlichung verzichten. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der aus vielen Gründen in allen Bereichen die präventive Verrechtlichung im Rahmen neuer "Ermächtigungsgesetze" stattfindet. Gerade deshalb scheint mir ein Fünkchen Selbstbestimmung unabdingbar.
Schlägt hier nicht eine Tradition der Medizinkritik, die linke Skepsis gegenüber High-Tech-Medizin, Überversorgung und Bevormundung durch? Dagegen ist es aber heute doch eher so, dass viele Menschen befürchten müssen, eine bestimmte Behandlung, die sie benötigen, gar nicht mehr zu erhalten. Gehen da nicht die Voraussetzungen fehl, und macht man sich als Befürworter von Patientenverfügungen nicht auch zum Erfüllungsgehilfen der Ökonomisierung?
ERIKA FEYERABEND: Ich würde dem zustimmen. Wir haben ein grundsätzliches Problem. Die individuelle Situation ist immer eine vorgestellte, persönlich erfahren oder medial kommuniziert. Gleichzeitig soll eine juristisch normierte Situation geschaffen werden, wie mit Menschen in einer entsprechenden Lage umgegangen wird und werden kann. Es ist aber nicht zu erwarten, dass eine juristische Norm meine individuelle Lage löst. Der Anschluss an den Diskurs der Ökonomisierung ist dann durchschlagender als die individuelle Problemlösung.
Zudem gibt es viele alte, einsame Menschen, die nicht auf ein persönliches Netzwerk zurückgreifen können. Sie erhalten einen professionellen Betreuer zugewiesen, der unter Umständen bis zu 500 Leute zu versehen hat. Soll der das Problem lösen können? Der wird den einmal niedergelegten Willen gar nicht konkret interpretieren können, dazu fehlt ihm nämlich die Zeit. Und auch Angehörige haben nicht immer uneigennützige Gründe. Wir müssten bei der Situation der alten Menschen ansetzen, dort, wo ihre Probleme entstehen, statt individuell Absichtserklärungen juristisch und institutionell handhabbar machen.
WOLF-DIETER NARR: Normalerweise bin auch ich rechtsskeptisch. In diesem Fall - gerade weil ich die allgemeinen Tendenzen in vielen Bereichen, auch im Recht beobachte - scheint mir die Patientenverfügung eine Möglichkeit, ein Stück Selbstbestimmung zu retten, die der Person entzogen würde in einer Zeit, wenn sie am schwächsten ist. Diese Gefahr treibt uns selbstverständlich schon früher um. Wenn ich wüsste, ich könnte mich nicht auf meine Frau oder andere Leute verlassen, die dafür sorgen werden, dass sie mich davor schützen, gegen meinen Willen behandelt zu werden, ich würde versuchen, mein Selbstbestimmungswollen heute schon zu retten. Wir können doch zugeben, Frau Feyerabend, wir sind insofern beide nackt, also ohne Mittel, als Sie immer auf Verantwortung rekurrieren, aber nicht sagen können, wer hier die Verantwortlichen sind und ob die richtig entscheiden.
Wir sind uns doch einig, dass der Patient in dem, was wir jetzt als "Ökonomisierung" umrissen haben, geschützt werden sollte. Worin sähen Sie, Frau Feyerabend, Handlungsoptionen außerhalb von Patientenverfügungen?
ERIKA FEYERABEND: Wir werden nicht am grünen Tisch individuelle Lebens- und Sterbesituationen positiv planen und ausgestalten können. Was man aber machen kann, ist, die Situationen von Menschen in Institutionen mit einem hohen Pflegebedarf und einer begrenzten Lebenserwartung so gut wie möglich sozial zu gestalten. Das halte ich für die allerwichtigste Aufgabe. Dann ist es auch möglich, das Leben im Heim oder die ambulante Versorgung zuhause sowie die Schmerzbehandlung grundlegend zu verbessern. Denn es geht doch darum, gemeinsam mit den betroffenen Menschen zu leben, und nicht um die Entscheidung zum Tod. Das ist meine Alternative, die aber nicht bedeutet, dass alle so sterben können, wie sie das wollten. Das tut man allerdings mit einer Patientenverfügung auch nicht.
Herr Narr, ist ein "Selbstbestimmungsrecht zum Tode" als reines Abwehrrecht nicht zu wenig? Sollte man Selbstbestimmung nicht auch in Form einer Leistung einfordern?
WOLF-DIETER NARR: Sie haben Recht, es handelt sich letztlich um ein liberales Abwehrrecht. Wenn Sie so wollen, ist das bei mir ein Produkt der Resignation. Die größte Gefahr der Patientenverfügung würde für mich darin bestehen, dass man sich mit den schlechten Verhältnissen abfindet. Doch als liberales Minimum will ich das Recht, über das Ende meines Lebens bestimmen zu können, erhalten. Dass ich mir eine Demokratisierung des gesamten Gesundheitssystems wünschen würde, ist keine Frage, im Moment jedoch eine pure Illusion. Es ist doch vielmehr so, dass in vielen Pflegeheimen gerade noch die Böden glänzend gehalten und die Betten gemacht werden und das Essen serviert wird. Alles was darüber hinausgeht, funktioniert nicht, und das liegt nicht an den Pflegekräften. Wenn hier nichts passiert, wird das "liberale Schwänzchen", das Abwehrrecht, letztlich auch in der Luft hängen bleiben.
Das Gespräch moderierten Ulrike Baureithel und Connie Uschtrin
Erika Feyerabend beschäftigt sich als Sozialwissenschaftlerin mit biopolitischen Fragen, unter anderem bei "BioSkop", einem Verein zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien.
Wolf-Dieter Narr lehrte bis 2002 als Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Er ist Mitgründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie und engagiert sich in Menschenrechts- und Demokratiefragen. Er wurde am 13. März 70 Jahre alt.
Patientenverfügung
Nachdem der Bundestag 2005 schon einmal ausführlich über die Gültigkeit von Patientenverfügungen debattiert hat, nimmt das Justizministerium derzeit einen neuen Anlauf, deren Verbindlichkeit gesetzlich zu regeln. Bislang gibt es mehrere interfraktionelle Initiativen, die sich vor allem im Hinblick auf die Reichweite von Patientenverfügungen und die Rolle der Betreuer und Vormundschaftsgerichte unterscheiden. Sollen Patientenverfügungen beschränkt werden auf eine Situation, die irreversibel zum Tode führt oder sollen sie in jedem Fall gelten, etwa auch bei schwerer Demenz? Unterschiedlich beurteilen die verschiedenen, derzeit kursierenden Vorlagen auch Patienten im Wachkoma: Sollen Ärzte gezwungen werden, die Apparate in jedem Stadium des Wachkomas abzuschalten, wenn ein entsprechender Wille bekundet ist, oder nur dann, wenn nicht zu erwarten ist, dass ein Patient das Bewusstsein wiedererlangt beziehungsweise erst, wenn das Wachkoma in den Sterbeprozess übergeht? Die Positionen zu Patientenverfügungen und Sterbebegleitung gehen, wie auch das Streitgespräch zwischen Wolf-Dieter Narr und Erika Feyerabend zeigt, quer durch die politischen Lager. Deshalb wird für die Abgeordneten der Fraktionszwang aufgehoben.
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