Zukunft Celebration

Vom Produkt zum Erlebnis Kultur ist die wichtigste Wachstumsbranche oder bald gibt es die unvergessliche Erfahrung säuberlich abgepackt im Laden nebenan

Wer heute sein Wunschauto direkt in Wolfsburg abholen möchte oder einfach nur neugierig ist, kann einen oder zwei Tage in der von VW konzipierten AUTOSTADT verbringen. Diese versteht sich selbst als "Weltforum der Automobilität" und "Center of Excellence." Der Käufer oder Besucher kann dort Fahrten mit einzelnen Modellen unternehmen, ein Automuseum besichtigen, den Karibikbrunch genießen, Fit for Fun betreiben oder erlesene Weine verkosten. Damit verwandelt sich der Kauf eines Fahrzeugs in ein umfassendes Erlebnis. Die Marke VW präsentiert sich in ihrer eigenen Metropolis als eine Service- und Kommunikationsplattform, die es dem Kunden ermöglicht, unterschiedlichste Erfahrungen zu machen. Man kauft folglich nicht allein ein Auto, sondern - wie auch die Werbung suggeriert - ein unverwechselbares (Fahr)-Erlebnis.
Diese Transformation vom Produkt zum Erlebnis ist Ausdruck einer Neuorientierung der kapitalistischen Marktwirtschaft. In der "Erfahrungsökonomie" steht die Fabrikation von Erlebnissen und der Zugang zu ihnen im Zentrum. Letzteres verweist auf eine Kommerzialisierung, die nichts anderes bedeutet, als dass wir für unser eigenes Erleben zunehmend selbst bezahlen müssen. Der (Werbe)Markt für Erfahrungen und Beziehungen wächst dementsprechend unaufhörlich. Hatte sich die Marketingbranche bislang vor allem auf Produktwerbung und einfache Dienstleistungen konzentriert, ist heute das Geschäft mit der Vermarktung von Erlebnissen zentral geworden. Entertainmentzentren, Wellness, Mode, Sport, Musik, Film, Eventsponsoring, Shopping-Malls oder Cyberspace - die Inszenierung kultureller und gemeinschaftlicher Erfahrungen stehen im Mittelpunkt der Werbestrategen.
Nun ist es schon lange die Aufgabe der Marketingspezialisten, Bedeutungen aus der populären Kultur herauszunehmen und sie mit Hilfe der Künste (Musik, Film, Graphik, Design) so zu präparieren, dass sie emotionale Reaktionen bei den Konsumenten erzeugen. Die Werbung verkauft in den meisten Fällen keine Produkte mehr, sondern das Erlebnis, das der Konsument mit diesem Produkt verbindet. Die Strategie der großen Markenfirmen besteht deshalb darin, Images zu verkaufen, die für bestimmte Erlebnisqualitäten und persönliche Dispositionen stehen. Anstatt einfach nur Waren zu vertreiben, besetzen Marken nun Werte, die früher Ideologien, Religionen und politischen Parteien vorbehalten waren. Der Autor Tom Frank verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Vereinnahmung gegenkultureller Werte: "Benetton hat es geschafft, seine Marke mit dem Kampf gegen den Rassismus gleichzusetzen. Apple steht für den Kampf gegen die Technokratie, und Pepsi hat die Jugendrebellion in Beschlag genommen. The Body Shop hat das Mitgefühl für sich gepachtet, Reebok den Nonkonformismus, und MTV reklamiert die Glaubwürdigkeit beim Underground."
Neu ist heute daran, dass nicht nur die Bedeutungen des (gegen)kulturellen Lebens zunehmend kommerzialisiert werden, sondern die gelebte Erfahrung selbst. Der Zugang zu bestimmten Erlebnissen wird also käuflich. Höhepunkt dieser Entwicklung sind die in den USA sich rasch ausbreitenden geschlossenen Communities, wie etwa die von Disney konzipierte Celebration City, in der menschliche Gemeinschaft nicht mehr geschaffen werden muss, sondern einfach "gekauft" werden kann.
Ein erfolgreiches Unternehmen muss heute versuchen, Erinnerungen und kulturelle Artefakte zu "produzieren", nicht primär Güter. Managementberater wie Joseph Pine und James Gilmore geben mit Buchtiteln wie The Experience Economy. Work is Theatre and Every Business a Stage den vorherrschenden Ton an. Die von ihnen geforderte "Theatralisierung des Geschäftslebens" ist im wesentlichen den Ergebnissen der Rollensoziologie entnommen. Insbesondere Erving Goffmans Buch Wir alle spielen Theater ist zur Philosophie US-amerikanischer Wirtschaftsgurus geworden. Bei Goffman ist jedes intentionale Verhalten von Natur aus theatralisch, eine Tatsache, die Marketingfachleute auf jeden Kaufakt und die Unternehmen selbst übertragen. Damit verwandelt sich jeder Warentausch in die Inszenierung eines individuellen Dramas. Auch Unternehmen werden nicht mehr mit Arbeits- als vielmehr mit Spielbegriffen beschrieben. Arbeitskräfte werden zu Playern, Phantasie und Kreativität lösen Disziplin und Rationalität ab. Der vielzitierte Lebensunternehmer findet sich in einer narrativen Umwelt, in der die Ökonomie zum großen Theater mutiert. Ständige "Neubesetzungen" sind so an der Tagesordnung.
Unterhaltung wird tatsächlich in immer weiteren Bereichen menschlicher Tätigkeit zum bestimmenden Faktor. Alles wird tendenziell zum Event: Nachrichten, Konsumieren, ja selbst der eigene Arbeitsplatz wird zu "on stage". Der US-Autor Michael Wolf behauptet in seinem Buch The Entertainment Economy: "there is no business without show business". Jedes kommerzielle Geschäft wird sich gewissermaßen Hollywood angleichen müssen, wird Teil einer sorgfältigen kulturellen Inszenierung.
Die Unterhaltungsbranche ist zu jenem Wirtschaftszweig geworden, der weltweit am stärksten wächst. Der Tourismus ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie die Erfahrungsökonomie funktioniert. Die meisten Reiseangebote sind heute theatralisch, Fun, Attraktionen und Erlebnisse müssen Teil des Angebotes sein, der Kunde will unterhalten werden. Kulturelle Erfahrungen, wie etwa die Konfrontation mit Fremden, sind mehr Simulationen als tatsächliche Erlebnisse. Absurderweise wird das "authentische mexikanische Dorf", das etwa Cluburlaubern innerhalb ihres Ferienareals angeboten wird, oft genau da konsumiert, wo das reale Dorf um die Ecke läge. Als Vorbild all dieser sich "echt" gebärdenden Erfahrungswelten stehen neben den großen Shopping-Malls die Themenparks von Disney. Auch in ihnen ist man weder von Sprach- oder Währungsproblemen geplagt, noch muss man hygienische oder politische Missstände in den nachgebauten mexikanischen oder afrikanischen Dörfern fürchten. Kulturelle Erlebnisse werden in Disneys Welten zu standardisierten Konsumgütern. Sie werden inzwischen nach den gleichen Kriterien wie normale Waren gekauft und gesammelt. Menschliche Kultur und soziale Räume werden zu Waren gemacht, die mir, in "Einzelstücke" verpackt, gegen Bezahlung wieder zur Verfügung gestellt werden.
Erlebnisse stellen jedoch nicht den endgültigen Höhepunkt in der Expansion wirtschaftlicher Angebote dar. Auch sie mutieren leicht zur Massenware. Zudem gilt: wenn man etwas zum zweiten Mal erlebt, macht es meistens weniger Spaß als beim ersten Mal. Beim vierten oder fünften Mal wird das Vergnügen noch geringer sein, und schließlich wird man aufhören, dieses eine Erlebnis konsumieren zu wollen. Der weitere Schritt liegt darin, ein Erlebnis zu kreieren, das mich verwandelt, eine Änderung meiner Person bewirkt. Die Verwandlung ist ein eigenständiges Angebot, das letzte in der Progression des wirtschaftlichen Wertes. Im Zeitalter der Erlebniswirtschaft wird der Kunde also selbst zum Produkt. Ziel ist die Inszenierung von Erlebnissen, die ihn nachhaltig verändern.
In der radikalisierten Form dieser Ökonomie dient so das Spaßversprechen oder das unvergessliche Erlebnis nicht mehr vorrangig dazu, den Absatz von Waren zu erhöhen, sondern wird selbst zum primären Ziel. Güter und Dienstleistungen sind nur noch die Beigabe eines (kostenpflichtigen) Erlebnisses. Das traditionelle Setting der Erhöhung der Konsumbereitschaft wird in das einer Zugangs- und Teilnahmeberechtigung transformiert.
Damit sind wir an einem problematischen Punkt angelangt. Innerhalb einer "Ökonomie des Zugangs" (J. Rifkin) sind diejenigen von kulturellen Erfahrungen ausgeschlossen, die nicht über die nötige Kaufkraft verfügen, sich in den neuen Welten und Netzwerken zu bewegen. Mehr noch als in der alten Ökonomie des Eigentums betrifft "Zugang" unser gesamtes Leben und entscheidet über die Verfügung von Informationen und Lebensmöglichkeiten. Die Proteste gegen die Globalisierung, für die stellvertretend die großen Marken- und Erfahrungsmacher stehen, sind auch als Widerstand gegen eine totale Kommerzialisierung unseres Lebens und dem Ausschluss ganzer Teile der (Welt)Bevölkerung zu lesen. Aktionen wie Reclaim the Streets zielen denn auch konsequent auf die Wiederaneignung der öffentlichen Sphäre und kultureller Erfahrungen, die zunehmend zum Privatbesitz großer Markenkonzerne werden.
Aber auch die gegenwärtig zu beobachtenden Schwierigkeiten der Semio-Industrie zeigen eine Übersättigung der Konsumenten mit ihren Angeboten. Die Aufmerksamkeit für immer neue auf den Markt gebrachte Produkte, Serviceleistungen und Dienste lässt nach, da immer weniger Konsumenten einen Sinn dahinter erkennen können. Unklar bleibt bei dieser Verweigerung, ob wir es heute mit einer "normalen Krise" in der Phase einer Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu tun haben oder mit einer faktischen Grenze der kommerziellen Ausschlachtung von Erfahrung und Kultur. Wenn das gesamte menschliche Handeln, Denken und Erleben, also Kultur im weitesten Sinne, zur homogenen Ware wird, die bearbeitet, neu verpackt und verkauft werden kann, verliert der Kommerz auf Dauer sein wichtigstes Reservoir: die kulturelle Diversität. Das ruft, wie bereits deutlich zu beobachten, unweigerlich unterschiedliche Formen von Widerstand hervor. Dagegen steht, dass die Erlebnisindustrie nicht nur als globale Maschinerie der Produktion konformer Realität zu betrachten ist, sie liefert zugleich in ihrer Totalität für jeden das Passende - entsprechende Kaufkraft natürlich vorausgesetzt.
Vielleicht ist irgendwann auch sozialer und individueller Widerstand fein säuberlich und abgepackt als unvergessliches Erlebnis zu kaufen. Spätestens dann wird Celebration von Revolution City abgelöst werden.

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