I. Die aneinandergereihten Studios der Villa Massimo
gleichen einem Reisebus, der niemals den Hügel über der Piazza Bologna verlässt. Die Deutsche Akademie Rom, dieser zypressen- und piniengeschmückte Kopfbahnhof, ist splendid gelegen, es soll schon Stipendiaten gegeben haben, die nach Ankunft keinen Schritt mehr vor das eiserne Tor der Villa taten. Während der Architekt gleich loszieht, um in zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte einzutauchen, schließt der Medien-Eremit sorgsam die Türen seines Studios und dreht für zehn Monate einsam an den Reglern seiner elektronischen Geräte. Eine Künstlerkolonie ist ein Wagnis, Künstler zu sein birgt so wenig Gemeinsamkeiten wie Linkshänder zu sein, Allergiker oder Mutter.
Nicht allen gelingt
Nicht allen gelingt der Aufenthalt. Da scheitert der Maler an Rom oder an seinem Ruhm. Den Schriftsteller zermürben die selbstauferlegten Aufgaben. Die Bildhauerin gerät in schiefe Gemütslage. Ungebührliches Verhalten kann wie bei jeder gewöhnlichen Klassenfahrt zum Ausschluss führen – oder das Überschreiten der Fehltage: Vierzig sind das Limit.Das Schicksal macht auch vor den dicken Mauern nicht halt. Herzen brechen und Schneidezähne (beim Fensterln an der Fassade des hartherzigen Angebeteten) oder Wadenbeine bersten, beim Fußballspiel 40+.Nur der Alltag besitzt keinen Schlüssel zur Parkanlage. Dennoch: Durch das meterhohe Atelierfenster beobachtet der Stipendiat wehmütig das rasche Vorbeiziehen der Jahreszeiten. Der Augenblick verweilt auch in der schönsten Umgebung nicht. Kaum hat man sich eingewöhnt und genießt den knirschenden Kies unter den Sohlen der Römersandalen, heißt es schon Abschied nehmen. Es ist meist einer für immer, ähnlich dem von Kindergarten und Schule, a point of no return.Placeholder image-1II. Die Teenagertochter hatte nicht nach Rom gewollt,zum Trost wurde ihr ein sehnlichster Wunsch erfüllt – sie bekam einen Hund. Rom ist schon lange nicht mehr die Stadt der Katzen. Das Postkartenmotiv, stämmige Marmor-Füße, auf denen sich die Kätzchen sonnen, gehört der Vergangenheit an. Rom ist die Hauptstadt der Hunde, ihr Zentrum liegt im Park über dem Kolosseum, dem Colle Oppio. Staubig ist es im Sommer hier, ein Geruch von Urin und Müll schwebt über dem Brunnen mit dem brackigen Wasser. Aber der Kiosk wird gern besucht, von Anwohnern, Touristen und von den Hundebesitzern. Er wird von einer alten Dame betrieben, die ihre Kunden grimmig zusammen mit einem großen schwarzen Mann bedient. Man hat die beiden noch nie lachen gesehen. Die afrikanischen Flüchtlinge hatten sich unter den Schirmpinien hundert Meter weiter ein Zeltdorf im Müll errichtet. Sie saßen und lagen auf den marmornen Bänken, telefonierten, dösten auf Pappunterlagen in der Sonne. Manche lernten laut italienische Vokabeln. Als der Sommer vorüber war und heftige Regengüsse auf Rom niedergingen, versuchten sie in den wenigen Lichtmomenten um die Mittagszeit ihre Schlafsäcke zu trocknen.Placeholder infobox-1Die Tochter schrieb einen Artikel für die Schülerzeitung. Im Park setzte sich das blonde Mädchen zu den Männern und sprach mit Bineta aus dem Senegal, Ahmadu aus Nigeria, dem kleinen Tansila von der Elfenbeinküste. Nein, Angst vor ihnen hatte sie nicht, wieso auch? Alle Männer, die sie ausgefragt habe, hätten Hochschulabschlüsse gehabt, seien politisch verfolgte Ärzte und Apotheker gewesen in ihrer Heimat. „Glaubst du das wirklich?“ Ach was, dem Kind war’s egal.„Ihr hättet sie nie allein zu diesen Afrikanern gehen lassen dürfen“, schimpfte eine befreundete Notarin aus besseren Kreisen. Sie sei der erste weiße Mensch gewesen, der sich in Italien mit ihnen unterhalten habe, hätten die Männer ihr zugerufen, in gutem Englisch oder auf Französisch. „Mama, du glaubst es nicht. Die haben denselben Wunsch wie ich.“Neugierig spitzte die Mutter die Ohren: „Wir wollen einfach nur nach Deutschland.“Placeholder image-2III. An der Piazza Vittorio, hoch auf dem Esquilinliegt Roms Chinatown. Einst versorgte hier der größte Viktualien-Markt der Stadt die Anwohner mit frischen Lebensmitteln und zog mit seinen pittoresken Ständen und der zentralen Lage täglich breite Touristenströme an. Doch da, wo früher die Brassen und Barsche in der Sonne auf Eis lagen, türmen sich heute auf Klapptischen nur noch Schuhgebirge aus Plastik und zerwühlte Billigtextilien auf. Die Alimentari unter den prächtigen Kolonnaden sind geräumt, chinesische Händler bieten heute Dinge des täglichen Wegwerfens an: Handyhüllen, Selfiesticks, Regenschirme.Die Bürger und den Mittelstand hat es in die Flucht geschlagen. Geblieben sind neben den asiatischen Kaufleuten die Heimat- und Mittellosen, die Vertriebenen, die Geflüchteten und Aussätzigen der Hauptstadt – die meisten von ihnen ohne italienischen Pass, versteht sich. Es war einst der Ort von Vittorio de Sicas Fahrraddieben, doch auch die Kriminalität hat sich längst von der sonnigen Straße verzogen, hinein in den angenehmen Schatten der Stadtverwaltung. Es wird eine Menge gemunkelt, hinter vorgehaltener Hand oder während man sich ängstlich über die Schulter blickt. Der Alte lehnt am Tresen der Bar D’Amore, an der Via dello Statuto, und erzählt: Dort, wo einst die Schweinehälften an den Haken hingen, soll heute die chinesische Mafia ihr blutiges Geschäft betreiben. Mit Sack und Pack sei sie um die Jahrtausendwende eingefallen und habe die Stadtpalazzi gleich in bar bezahlt – direkt aus den Koffern. Noch etwas wird erzählt, denn der Mensch gruselt sich gern, nicht nur in Rom. Die Piazza ist auf dem ehemaligen Esquilinischen Friedhof erbaut. Am Ende des 19. Jahrhunderts fand man bei Bauarbeiten unzählige menschliche Gebeine von Sklaven und verurteilten Verbrechern des Römischen Reichs. Das Grab eines Chinesen suche man in Rom vergeblich, verrät der Alte mit gedämpfter Stimme. Identitäten werden an der Piazza Vittorio nicht begraben, lediglich ausgetauscht. Leichen in Rom? Der Alte zwinkert verschwörerisch. Er zeigt in Richtung Neapel. Das Meer ist groß.