Zwischenraumgestaltung

Alltag Ansichten auf der Schwelle zum geregelten Leben

Was man ist, ist man durch seine Anwesenheit im Raum, und wer keinen Raum hat, in dem er anwesend sein kann, hat es schwer, wer zu sein: Ohne Wohnung, keine Arbeit, ohne Arbeit, keine Wohnung. Die Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB) unterstützt seit mehr als 20 Jahren Wohnungslose auf dem Weg zurück ins geregelte Leben, indem sie vermietet, bürgt, sucht, vermittelt, betreut. Anders als kommunale Obdachlosenunterkünfte, die sich wie Asylbewerberheime meist am Rande der Städte befinden, liegen die kirchlichen Wohnungen inmitten der Gesellschaft. Die Fotografien auf dieser Seite wurden für einen Bildband über diese Arbeit aufgenommen, der zudem längere Porträts enthält und im Winter erscheinen soll (arm-in-bottrop.de).


Michael L.,

geb. 1964 in Bottrop

Früher waren meine Kumpels und ich der Schrecken auf jeder Kirmes. Es gab immer richtige Schlägereien. Im Suff natürlich. Die ganze Clique war so drauf. Einige sind für Jahre im Knast gelandet. Ich hatte nur kurz das Vergnügen, danach war ich geheilt. Meine Mutter ist gestorben, und ich wurde in Ketten zur Beerdigung geführt. Danach bin ich häuslich geworden. Trinke täglich zuhause mein Bier und bastele Windmühlen aus Streichhölzern. Drei sind schon fertig, haben zwischen 5.000 und 7.000 Streichhölzer. Die Wohnung ist mein ganzer Stolz. Alles muss sauber und aufgeräumt sein. So ein verlotterter Suffkopp wie früher bin ich nicht mehr. Ein Haus weiter ist so´n Rechtsradikaler mit Pit Bull eingezogen. Der terrorisiert die ganze Nachbarschaft mit seiner Nazi-Musik und Sauferei. Gegen den müssen wir was unternehmen. Die Polizei war schon da, aber das scheint nichts zu nutzen. Umhauen will ich ihn nicht, sonst lande ich im Knast. Wir haben Unterschriften gesammelt und an die Wohnungsgesellschaft geschickt. Vielleicht nutzt es ja was. Ich will meine Ruhe.


Horst,

geb. 1941 in Templin

Ich war Schäfer wie mein Vater und Großvater. Wir stammen aus Templin in Mecklenburg-Vorpommern, mussten aber nach dem Krieg dort verschwinden. Ich war Wanderschäfer am Rhein. Mit meiner Herde bin ich von der Schweiz bis nach Holland gezogen. Zum Schäfer muss man geboren werden, ich war´s, meine Schafe habe ich geliebt. Mit 29 geheiratet, hielt aber nur vier Jahre. Die Kinder halten noch heute zu mir. Sie wollen, dass ich nach München in ein Altenheim ziehe. Nach meiner Erkrankung konnte ich nicht mehr arbeiten. Ich habe die Tiere verkauft und bin herumgezogen. In Bottrop bin ich hängen geblieben. Mit dem Einkaufswagen hab ich leere Flaschen gesammelt, selten geschnorrt. Zum Sozialamt wollt ich nicht, hab schließlich mein ganzes Leben gearbeitet. Irgendwann bin ich doch hin, aus Not. Ein junger Schnösel wollte, dass ich Blätter fegen gehe für das Geld. Ich hab ihm gesagt, er soll selber fegen und bin abgehauen. Jetzt bekomme ich Rente und keine Sozialhilfe.


Nicole,

geb. 1977 in Bottrop

Meine Kindheit verlief wie in einem schlechten Märchen. Wechselnde Partner der Mutter, mit uns Kindern konnten die nicht viel anfangen. Alkoholexzesse, Schläge, Verwahrlosung. Mit 15 für zwei Jahre ins Heim, hab da keinen Halt gefunden und bin zurück zur Mutter. Hauptschule mit der 7. Klasse verlassen, am Ende die Stunden in der Berufsschule abgesessen. Dazwischen den Alltag mit Kiffen, Alkohol und Heroin aufgehellt. Dann Gelegenheitsjobs, Sozialhilfe und einige Monate in ´ner Wäscherei. Nichts Festes. Auch keinen Wohnsitz. Mein langjähriger Freund wurde zum Ehemann. Wir zogen zusammen, bekamen zwei Kinder. Die Beziehung ging unter im Drogensumpf. Ich übernachtete mal hier, mal da oder beim aktuellen Partner. Nach jeder Trennung wieder obdachlos, ohne Arbeit, immer noch Sozialhilfe. 1998 dann eine Hoffnung: Aufnahme ins Methadonprogramm. Fast drei Jahre sauber, der Rückfall war dafür umso gewaltiger. Ich brauchte Geld, viel Geld. Die Zockereien brachten mir Haft ein. Nach der Entlassung bin ich in die Obdachlosensiedlung mit meinem Hund gezogen. Er ist mein bester Freund, mein Baby.


Siegbert,

geb. 1944 in Bottrop

Nach der Volksschule hab ich Elektriker gelernt. Mit 18 bin ich nach Berlin abgehauen - wegen der Bundeswehr. Die Feldjäger wollten mich holen. Aber ich wollte meine Freiheit. Die hab ich schon zuhause nicht gehabt. Ich hab als Elektriker in Kreuzberg und Neukölln gearbeitet, wilde Zeiten. Als ich wiederkam, hab ich in Düsseldorf gewohnt und bei Ford in Köln malocht. Dann wurde ich schwer krank: Tuberkulose. Eine Seite der Lunge wollte nicht heilen. Insgesamt war ich fünf Jahre in Kliniken. Im Krankenhaus hat die Bundeswehr mich gefunden, ich sollte endlich den Dienst antreten. Ging jetzt natürlich nicht mehr. Hab dann mehrere ABM gemacht, nach 1993 nichts mehr. Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, jetzt Hartz IV. Als ich mich von meiner Freundin getrennt hab, musste ich aus ihrer Wohnung raus und hatte keine Bleibe mehr. Ich hab lange in einer Holzbarackensiedlung der Stadt gewohnt. Die wurde dann abgerissen. Seit 2000 lebe ich in einer Wohnung der Kirche, will aber nach Holland zu meinen Verwandten.


Michael W.,

geb. 1960 in Bottrop

Bis 28 hab ich bei meiner Mutter gewohnt. Mein Vater ist früh gestorben. Die Rente war knapp, meine Mutter ging putzen. Ich hab Konditor gelernt, aber eigentlich wollte ich Koch werden. Die Feinarbeit war nichts für mich, da hab ich die Ausbildung geschmissen und als Jungbergmann gearbeitet. Bis ich eine Stütze umgehauen hab und unter einen Steinbruch geraten bin. Danach hatte ich keine Traute mehr. Also Hilfsarbeiterjobs, auch ABM. Dann Heirat, zwei Kinder. Nach der Trennung fing ich an zu trinken. Meine Frau war mir egal, die Kinder nicht. Die durfte ich nicht mehr sehen. Raus aus der gemeinsamen Wohnung, zu meinen Großeltern. Später hab ich in Wohngruppen gelebt. 2000 hab ich aufgehört zu saufen: Ich will im Sicherheitsgewerbe arbeiten. Schon bei der Bundeswehr hat mir das gefallen. Eine Ausbildung zur Werkschutzfachkraft hab ich gemacht und die theoretische Prüfung als Bester bestanden. Dann war ich Zugbegleiter: Fahrkartenkontrolle und so. Auch Veranstaltungsschutz und Wachdienst hab ich gemacht. Aber nie lange. Mir fehlt der Führerschein.


Mary,

geb. 1947 in Bray, Wicklow/Irland

Bin in Irland geboren und 1973 der Liebe wegen nach Bottrop gekommen. Über 20 Jahre war alles o.k., bis zu meiner Scheidung. Ich bin total abgestürzt: Alkohol und falsche Freunde. Das Leben ohne Wohnung ist für Frauen besonders schlimm. Ich suchte einen Partner, der mich beschützt auf der Straße, nachts. Aber die waren alle Alkoholiker und ließen ihren Frust an mir aus. Es gab kaum einen Tag, an dem ich kein blaues Auge hatte. Mit einem jungen Mann bin ich in eine Barackensiedlung gezogen. Der hat die ganze Wohnung und meine Nase zertrümmert. Da lieber wieder auf die Straße. Der nächste Typ kam gerade aus dem Knast, hat das, was er drinnen nicht getrunken hat, draußen nachgeholt. Täglich gab´s eine Abreibung. Irgendwie bin ich immer auf solche Männer reingefallen, ich bin nicht gern allein. Seit 1999 hab ich ne eigene Wohnung. Mein Leben hat sich total verändert. Meine Partner von früher schlagen zwar öfter mein Türfenster ein, aber ich lasse sie nicht mehr rein. Hier ist meine Welt.


Daniel,

geb. 1978 in Geilenkirchen

Ich hatte nie ein richtiges Zuhause. Seit meinem zwölften Lebensjahr hab ich mit meinen Geschwistern im Heim gelebt, vorher bei meinen Großeltern. In vielen Städten hab ich meine Jugend verbracht: Münster, Düsseldorf, Witten. Zwei Jahre hab ich auf einem Bauernhof in Portugal gelebt als Maßnahme vom Jugendamt. Mein letztes Heim war in Wuppertal. Da bekam ich auch eine eigene Wohnung, als ich mit 20 entlassen wurde. Alles war neu für mich: Miete zahlen, Wasserwerke. Das konnte ich alles nicht. Deshalb hab ich die Wohnung mehr oder weniger "aufgegeben". Danach hab ich eine Zeit lang bei meiner Freundin in Bottrop gewohnt. Dann kam die Trennung, und ich war wohnungslos. Ich hab bei meinem Onkel gelebt oder bei Kollegen - mal zwei, mal drei Tage. Zurzeit lebe ich in einer betreuten Zweier-WG. Aber ich will eine richtige, eigene Wohnung für mich allein. In Zukunft soll alles in geregelten Bahnen verlaufen: arbeiten gehen, einen Führerschein haben, irgendwann mal heiraten und zwei Kinder haben.


Werner,

geb. 1944 in Elbing (Elblag)

Seit zwölf Jahren lebe ich in einer Wohnung mit nur einem Zimmer: Wohnzimmer, Küche, Waschbecken - alles auf 14 qm. Die Toilette ist im Flur hinter einem Vorhang. Geboren in Elbing in Westpreußen bin ich mit einem großen Flüchtlingstreck ins Ruhrgebiet gekommen. Hier gab es Arbeit auf der Zeche. Mit 14 Jahren hab ich angefangen, ab 16 bin ich unter Tage gefahren. 1965 war Schluss mit Bergbau, ich war Tagelöhner, hab mal hier, mal da gearbeitet, nie sehr lange - sogar mal fünf Tage in einem Café auf Helgoland. Für die Einträge der Arbeitgeber hat der Platz auf der Lohnsteuerkarte nicht ausgereicht. Anfang der Achtziger war mein Arbeitsleben dann praktisch beendet. Noch mal eine ABM bei der Stadtverwaltung, das war´s. Damals verunglückte meine Mutter, sie wurde von einem LKW überfahren und 50 Meter mitgeschleift. Von da an ging es steil nach unten mit mir. Hab mir das Entsetzen und den Verlust weg gesoffen. Keine Miete mehr bezahlt, ging alles für Alkohol drauf. Zehn Jahre war ich dann obdachlos. Heute bekomme ich Hartz IV. Mehr als den ganzen Tag fernsehen ist nicht drin.


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