Standort gegen Standort?

Gastkommentar Berliner Marktdogmatiker sollten nicht zu laut über Nokia wettern

Die Rollen sind verteilt. Hier der Schurke: Nokia. Dort die Lichtgestalten: Rüttgers, Beck und andere. Die Politik streitet für die Arbeitsplätze; Rüttgers bietet bereits großzügig Lohnverzicht an. Kein Zweifel, Nokia steht zu Recht in der Kritik. Die Kaltschnäuzigkeit des Verfahrens, mehr noch die Maßlosigkeit des Kostenkalküls fordern zu Protest heraus. Doch liegt die Verantwortung allein in Helsinki, wenn in Bochum sozialer Abstieg droht? Lassen sich Konflikte dieser Art darauf reduzieren, von Konzernen eine Korrektur der Standortentscheidung zu fordern und im Teufelskreis von Konkurrenz und Erpressbarkeit zu enden?

Bereits die betriebswirtschaftliche Logik der Produktionsverlagerung ist das Ergebnis politischer Weichenstellungen. Steinbrück spricht von "Karawanenkapitalismus" und vergisst die eigene Rolle: Keine Karawane ohne bereitwillig angelegte Subventions- und Steueroasen. Die grenzenlose Freiheit von Kapitalverkehr und Investitionsverlagerung - angereichert durch den Dumpingwettlauf nicht harmonisierter Unternehmenssteuern - ist das Werk europäischer, allen voran: Berliner Marktdogmatiker. Zudem: wer die Kapitalfreiheiten zum Verfassungsgut erhebt und über alles setzt, sollte den Hauptbetroffenen wenigstens die Freiheit zu angemessener Gegenwehr zugestehen. Doch genau dies ist politisch nicht gewollt. Kollektivverträge über Standort, Beschäftigung, Investitionen und Kapitalausstattung und deren Durchsetzung mittels Streik oder gar Betriebsbesetzungen gelten als unzulässig. Politische Vorstöße, dies zu ändern, gibt es nicht - mehr Mitbestimmung steht nicht auf der Tagesordnung, Selbst eine so bescheidene gesetzliche Vorkehrung, betriebsbedingte Kündigungen jedenfalls dann auszuschließen, wenn der Betrieb üppige Gewinne einfährt, ist politisch tabu. Den Betroffenen bleibt die Freiheit, die Opfer hinzunehmen und sie sozial abzufedern - oder sich in den Unterbietungswettlauf treiben zu lassen.

Die Sozialpolitik tut ein Übriges, dass Betriebsverlagerungen zur sozialen Katastrophe werden. Am Ende steht Hartz IV. Knapp ein Drittel der im Bochumer Nokia-Werk Arbeitenden sind überdies Leiharbeiter; sie müssen mit 60 Prozent des Einkommens der Stammbelegschaft und mit entsprechend geringerem Arbeitslosengeld zufrieden sein - und dies ohne Schutz vor Entlassung. Auch das hat der Gesetzgeber so gewollt, als er die Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter dem Dumpingwettlauf der real existierenden Gewerkschaftskonkurrenz überantwortete. Um diesem Missstand abzuhelfen, wurde in Brüssel eine Richtlinie entworfen, die den Leiharbeitern spätestens nach sechs Wochen unabdingbar den Lohn des Einsatzbetriebes garantiert. Fast alle EU-Regierungen stimmten zu - aus Berlin kam ein Veto!

Betrieben Bund und Länder zudem eine Wirtschaftspolitik, die im Sinne volkswirtschaftlicher Vorsorge einen angemessenen Teil des von allen erarbeiteten Reichtums steuerlich abschöpfen und reinvestieren würde, gäbe es keinen Mangel an Arbeitsplätzen. Stattdessen überbieten sich deutsche Regierungen in der Obsession, Steuern und Staatsquote zu senken, den privaten Reichtum zu fördern und so das Roulette der internationalen Finanzmärkte in Bewegung zu halten.

Es kann wahrlich nicht darum gehen, Nokia aus der Schusslinie zu nehmen. Doch wer in Politik und Regierung derzeit sein Handy zurückgibt und in Standort-Chauvinismus verfällt, sei an die eigene Verantwortung erinnert. Stünde am Ende von Betriebsverlagerungen nicht die politisch bewirkte Ausweglosigkeit sozialer Einbrüche, hätten wir den Kopf wieder frei für die Einsicht, dass es gut sein kann, wenn in Rumänien investiert wird. Erst recht aus der Sicht eines Landes, dessen Wirtschaft Jahr für Jahr aus anderen Ländern Milliarden-Überschüsse aufsaugt.

Detlef Hensche ist Rechtsanwalt und ehemaliger Vorsitzender der IG Medien.

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