Fatales Ehrenwort

KOMMENTAR Diepgen im Abseits

Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat sein Ehrenwort gehalten. Eberhard Diepgen wollte nicht zum symbolischen Spatenstich für das Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor gehen. Dass dieses Ereignis am 55. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz stattfand und dass Repräsentaten des Staates wie Bundeskanzler Schröder und Bundestagspräsident Thierse ihre Teilnahme an dieser Gedenkstunde angekündigt hatten, machte ihn in seinem Entschluss nicht wanken. Im Gegenteil: Viel Feind, viel Ehr! Diepgen, gerade erst von einer großen Mehrheit der Befragten einer emnid-Umfrage zu demjenigen Politiker gewählt, den man sich am ehesten für große Aufgaben vorstellen kann, meint, sein Nein werde schon richtig verstanden. Er war von Anfang an gegen dieses Denkmal, sei es nun von Christine Jakob-Marcks oder von Peter Eisenman. Ob Grabplatte oder Stelenfeld, er würde da nicht hingehen. Man fragt sich, welche Peinlichkeit größer war, die anfängliche Ausrede, er habe am 27. Januar vormittags aus Termingründen keine Zeit, oder sein klares Wort im Berliner Abgeordnetenhaus, ihm passe die ganze Richtung nicht. Sicher war die Absicht der PDS, den Berliner Regierungschef zwangsweise per Parlamentsbeschluss zur Teilnahme zu delegieren, ein Schuss in den Ofen. Aber die Weigerung gutgemeinten Ratschlägen gegenüber, vielleicht doch als oberster Repräsentant der Stadt bei der Feierstunde dabei zu sein, ist fatal. Sie offenbart keine Charakterstärke, sondern gut kalkulierten Starrsinn. Nach der Walser-Bubis-Debatte vom Herbst 1998 sollte eigentlich eine derartige Brüskierung der Opfer des Holocaust nicht vorstellbar sein. Die jüdische Gemeinde Berlins, inzwischen wieder stark angewachsen, wird sich ihren Teil denken. Es handelte sich schließlich um keinen Spatenstich für eine Autobahn. Die deutsche Hauptstadt muss um ihren Ruf besorgt sein. Diepgen sollte sich ein Beispiel an der Zivilcourage jener Berliner nehmen, die während der Nazizeit jüdische Mitbürger unter Lebensgefahr versteckten und vor der Deportation in die Vernichtungslager schützten. Nirgendwo in Nazideutschland sind so viele Juden vor dem Abtransport gerettet worden wie in Berlin. Man spricht von rund 2.000 Menschen. Vielleicht hätte sich Eberhard Diepgen das noch einmal durch den Kopf gehen lassen sollen. Die Feierstunde hatte Symbolkraft, man durfte sie nicht wahltaktischen Überlegungen opfern. Auch die Telefon-Umfrage des Berliner Tagesspiegels sollte Diepgen nicht in falscher Ruhe wiegen. 88,3 Prozent aller Anrufer waren der Meinung, der Regierende sei durch zwei Senatoren würdig vertreten. Ein deprimierendes Ergebnis und ein nachdenklich stimmendes dazu, wenn man an die politische Stimmung in der Stadt denkt. Was hatte der Bürgermeister am 27. Januar vor? Kaffee trinken, joggen, mit Parteifreunden die Lage erörtern? Oder über des Ex-Kanzlers Ehrenwort nachdenken? Er hätte seines brechen sollen, um zur Brache am Tiergarten zu fahren, gegen die Stimmung in der Stadt. Was allemal ehrenhafter gewesen wäre als seine beleidigte Abwesenheit, die missverstanden werden muss.

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