Vertraut und fremd

Stille Post Kolumne

Am Mittagstisch meines Pfarreronkels in Kloster Neuendorf (Altmark) saß der Säufer und erzählte. Er half zuweilen im Pfarrgarten für etwas Taschengeld und eine warme Mahlzeit aus. Zuhause gewesen war er im badischen Pforzheim. Dort erschien 1944 in seiner Abiturklasse ein einarmiger und einbeiniger SS-Offizier, der den Schülern eine Radikalpredigt über den Abwehrkampf Deutschlands gegen Bolschewiken und jüdische Plutokraten hielt. Zum Schluss brüllte er: "Und jetzt kommen alle die nach vorne, die sich nicht freiwillig zur Waffen-SS melden!" "Ihr könnt euch denken, dass sich niemand nach vorn traute." So wurde der Gymnasiast wie alle anderen Klassenkameraden Mitglied dieser Truppe, die ungern Gefangene machte.

Bei Kriegsende kam er in französische Gefangenschaft, man entdeckte sein Blutgruppenzeichen, das wie ein Zeckenbiss in der Achselhöhle steckte, und stellte ihn vor die Alternative: Entweder Gefängnis oder Fremdenlegion. Er wählte letzteres, diente ein paar Jahre, bevor es per Schiff in den französischen Vietnamkrieg ging. Im Suezkanal ging er von Bord. In die Bundesrepublik konnte er nicht zurück, er wäre als Fahnenflüchtiger an Frankreich ausgeliefert worden. Also ging er in die DDR, wo er nie heimisch wurde und zu trinken begann. So lernten wir ihn kennen, als ein gesundheitliches Wrack. Für uns, die wir in den fünfziger Jahren und auch später so manchen Werber für mancherlei Unangenehmes in der Schule, an der Uni und später im Beruf auftauchen sahen, war die Geschichte vertraut und fremd zugleich. Wir hatten Mitleid mit einem verpfuschten Leben.

Klaus Staeck war es, der im Zusammenhang mit der medialen Bombe, dass der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in der Waffen-SS diente, dazu riet, jeder solle darüber nachdenken, was er als 17-Jähriger angestellt und zu verantworten habe. Eine sympathische, aber dennoch zu kurz greifende Erklärung. Die Verhältnisse bestimmen, was ein 17-Jähriger zu bewältigen hat. Ob er ein gläubiger Endsiegfanatiker ist, oder ob er sich wie der Teenager Friedrich Merz durch lautes Mopedknattern in der Kleinstadt als Revoluzzer aufschminken will.

Bei Günter Grass ist allerdings der Zeitpunkt seiner Beichte irritierend. Er hätte bessere Gelegenheiten gehabt, darüber zu berichten, beispielsweise 1984 anlässlich der geplanten Kranzniederlegung von Kohl und Reagan in Bitburg vor Gräbern von Waffen-SS-Angehörigen. Oder Anfang der Neunziger, als seine Kollegin Christa Wolf wegen Stasiverdächtigungen öffentlich gerichtet werden sollte. Vielleicht auch mit dem Maler Bernhard Heisig, der sich an der eigenen Geschichte als Waffen-SS-Soldat wund rieb und zusätzlich von einer ziemlich selbstgerechten Öffentlichkeit verwundet wurde.

Dass Grass es in den fünfziger und sechziger Jahre nicht getan hat, scheint angesichts des damaligen Klimas in Westdeutschland verständlich. Der Bremer Anwalt Heinrich Hannover, ein Generationsgefährte des Autors, berichtete dieser Tage in einem Interview mit der Berliner Zeitung von einem Betriebsrat seiner Heimatstadt, der zu einer FDGB-Tagung nach Ostberlin gefahren war und dort in einer Diskussion meinte, es sei besser, die Deutschen würden miteinander reden, statt aufeinander zu schießen. Er wurde anschließend im Westen zu sieben Monaten Haft verurteilt. Er habe im Interesse der SED gehandelt, einer Ersatzorganisation der verbotenen KPD. "In der Urteilsbegründung hieß es, strafmildernd habe man berücksichtigt, dass er im Kriege seine Pflicht getan habe. Er war als Soldat der Waffen-SS mit Hitlers Armeen in die Sowjetunion einmarschiert."

Es war die Zeit, als 1962 Wolfgang Immerwahr Fränkel, der als ein besonders blutrünstiger Ankläger am Leipziger Reichsgericht häufig Haftstrafen in Todesurteile umwandelte, Generalbundesanwalt werden sollte, was öffentliche Proteste verhinderten. Man stelle sich vor, Grass wäre in jenen Jahren nach Erscheinen der "Blechtrommel" als Nestbeschmutzer diffamiert worden, aber zu seiner Verteidigung wäre der Hinweis erschienen, er habe als Soldat der SS-Division "Georg von Frundsberg" sein Vaterland bei Cottbus vor dem Bolschewismus verteidigt.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden