In Lebensgefahr

Argentinien Machistische Gewalt trifft Frauen, auch transsexuelle. Morde sind keine Seltenheit
Ausgabe 41/2017

Nach jahrzehntelangem Kampf der Trans*-Bewegung verabschiedete am 10. Mai 2012 der argentinische Senat während der Regierungszeit der sozialpopulistischen Kirchneristen ein Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität. Es war ein historischer Durchbruch: das erste Gesetz weltweit, das ohne psychiatrische Diagnose oder Sterilisierung das Recht auf eine selbstbestimmte Gender-Identität durch einen einfachen amtlichen Akt der Änderung der Ausweispapiere garantiert. Seit 2012 konnten in Argentinien mehr als 6.000 Trans* ihren Personenstand im Personalausweis ohne jegliche Diagnose verändern.

Das Gesetz war in der Folge Vorbild für Länder wie Malta oder Dänemark. Auch in Deutschland fordern Trans*-Organisationen wie der Bundesverband Trans* oder der Verein TransInterQueer ähnliche Gesetzesänderungen. Bisher mit wenig Erfolg.

Die Lebensrealität von Frauen* und Trans* ist in Argentinien jedoch von Geschlechtergewalt, Hassverbrechen und brutalen Tötungen bestimmt. Die feministische Bewegung „Ni Una Menos“ (der Freitag 29/2017), die in Argentinien ihren Anfang fand und inzwischen auch in anderen südamerikanischen Ländern aktiv ist, erhebt sich gegen Femizide, also Frauenmorde, und machistische Gewalt.

Besonders verletzlich

Im Herbst 2015 wurde die Trans*-Aktivistin Diana Sacayán in Buenos Aires brutal ermordet. Ein Jahr später, im Herbst 2016, ging der Fall vor Gericht. Es war das erste Mal, dass die Ermordung einer Trans*frau als „Femizid“ benannt und verurteilt wurde. Genau am ersten Jahrestag der Ermordung von Diana Sacayán, am 11. Oktober 2016, wurde die 26-jährige Evelyn Rojas in einem verlassenen Bahnhof in der Provinz Misiones tot aufgefunden: eine Region, die vom Colectivo de Acción Contra las Violencias de Géneros (Kollektiv gegen Geschlechtergewalt) als Provinz mit der zweitgrößten Anzahl an Femiziden und sexueller Gewalt gegen Frauen im Land aufgeführt wird.

Nach der Ermordung von Evelyn Rojas brachten Trans*-Initiativen ihren Protest in Buenos Aires auf der Straße zum Ausdruck: „Wir müssen uns organisieren, damit es keine weiteren Toten durch machistische Gewalt mehr gibt. Um die Moral, die die Kirche und ihre Verbündeten uns aufzwingen wollen, in Frage zu stellen und die transphobe Gewalt zu bekämpfen, müssen wir Tausende werden in den Straßen, den Schulen, den Unis und Fabriken und allen Orten mit dem Aufschrei: Ni Una Menos!“

Trans*personen sind besonders verletzlich und ausgegrenzt. Das zeigt sich in langwierigen Kämpfen mit Behörden um die Finanzierung hormoneller oder operativer Behandlungen. Wie die Vereinigung von Travestis, Transsexuellen und Transgender von Argentinien (ATTTA) meldet, warteten im Mai 2016 über 600 Personen auf eine „Geschlechtsangleichung“ in öffentlichen Krankenhäusern des ganzen Landes. Für Trans* ist es schwierig, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu bekommen. Das Kollektiv Lohana Berkins, benannt nach einer im Februar 2016 verstorbenen Trans*-Aktivistin, setzt sich für mehr Arbeitsplätze für Trans* ein und fordert die Umsetzung einer inzwischen auch gesetzlich festgesetzten Trans*-Quote von einem Prozent im Arbeitsbereich.

85 Prozent der Trans*frauen und 63 Prozent der Trans*männer sind in Argentinien in der Prostitution tätig, Zeichen ihrer prekären sozialen Lage. Zuhälterei des Staates, so nennen die in der ATTTA oder anderen LGBTIQ-Vereinen organisierten Trans*frauen die Kontrollen in den Straßen und die ihnen dabei abverlangten Schmiergelder. In der Hauptstadt gibt es zwar inzwischen ein offiziell anerkanntes Rotlichtviertel und in den Reiseführern wird Buenos Aires als das Paradies für Schwule und Lesben in Lateinamerika angepriesen. Tatsächlich gibt es in Buenos Aires einige schwule Bars, Discos und Saunas sowie einige wenige lesbische und queere Orte. Aber der Alltag vieler Trans* ist weit entfernt davon, ein Paradies zu sein. In der scheinbar liberalen Hauptstadt gelten gesetzliche Verordnungen, die Sexarbeiter*innen das Leben schwer machen, wie zum Beispiel einen Mindestabstand von 200 Metern zu Kirchen einzuhalten. Ausweiskontrollen und Verhaftungen treffen insbesondere Migrant*innen aus Zentralamerika oder Bolivien, Peru und Kolumbien, die sich in Buenos Aires bessere Verdienstchancen erhoffen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung von Trans* ist außerordentlich gering. Sie liegt in Argentinien laut einer Studie der ILO zwischen 35 und 40 Jahren. Haupttodesursache ist Aids, 62 Prozent sterben an der Krankheit, gefolgt von Polizeigewalt und transphoben Femiziden. Viele Trans*frauen werden durch ihre Partner ermordet, durch Zuhälter, die sie sexuell ausbeuten oder durch Kunden. Polizeierlasse zur „öffentlichen Sicherheit“ aus der Zeit der Militärdiktatur werden mit unwesentlichen Veränderungen vor allem in den Provinzen gegen Trans*sexarbeiterinnen angewendet. Die Polizei kann sie so 24 Stunden oder auch drei bis vier Wochen festhalten. Trans*sexarbeiterinnen müssen Geldstrafen zahlen, wenn sie nicht gleich ihr gesamtes Bargeld abgenommen bekommen. Häufig werden sie während und nach den Verhaftungen geschlagen, belästigt und misshandelt.

Spuren der Militärdiktatur

Während der Militärdiktatur wurden unzählige Trans*personen verhaftet, gefoltert und ermordet. Viele verschwanden. Alejandro Mamani, Mitglied bei Abosex, Rechtsanwälte für sexuelle Rechte, erklärt, dass die Verhaftung von Travestis und Transgender-Personen mit dem Vorwurf des Tragens der „falschen Bekleidung“ bis zum Jahr 1995 sehr üblich gewesen sei. Dieses Stigma sei im Milieu der Polizei erhalten geblieben.

Im Oktober 2016 wurde im Abgeordnetenhaus ein Entschädigungsgesetz für Travestis und Trans*, die Opfer von institutioneller Gewalt geworden sind, durchgesetzt, dank Lobbyarbeit von Trans*-Vereinen und Menschenrechtsarbeit, die von den Kirchneristen zumindest teilweise begünstigt worden war. Ein Projekt, das von der Trans*-Aktivistin Lohana Berkins initiiert wurde, gewährt den Opfern der institutionellen Geschlechter-Gewalt eine bescheidene Rente.

Mit der neoliberalen Politik des seit 2015 amtierenden Präsidenten Mauricio Macri wurden die finanziellen Zuwendungen für bisher geförderte Menschenrechtsprojekte stark gekürzt. Auch die wenigen selbstorganisierten Schulen, die Trans* ermöglichten, einen Bildungsabschluss nachzuholen und einen anderen Beruf zu ergreifen, sind in ihrer Existenz bedroht oder mussten bereits schließen.

Auch global betrachtet verschlechtern sich die Lebensbedingungen für Trans*. Nach den Forschungen des Transgender-Monitoring-Projektes (TMM) der Organisation Transgender Europe (TGEU) wurden in den letzten acht Jahren weltweit über 2.000 Trans*personen, in der überwiegenden Mehrheit Trans*frauen, ermordet. Der Bericht macht einen konstanten Anstieg der Zahl der Ermordeten deutlich. Mehr als 1.500 davon wurden in Süd-und Zentralamerika ermordet. 65 Prozent aller ermordeten Trans*personen waren Sexarbeiter*innen. Mar Cambrollé, die Vorsitzende von Plataforma Trans, einem Bündnis von Trans*-Gruppen in Spanien, erklärt: „Die Rechte von Trans*personen sind keine speziellen Rechte, sondern allgemeine Menschenrechte.“ Sie fügt hinzu, dass Trans*personen „ein Recht auf Leben wie jedes menschliche Wesen haben. Sie haben Anspruch auf Schutz gegen willkürliche Festnahme und Folter, auf Nicht-Diskriminierung sowie Ausdrucksfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Diese Rechte und viele andere sind verankert in internationalen Gesetzen und Abkommen, obwohl sie vielen Trans*personen aufgrund ihrer Identität oder ihrer Selbstdarstellung abgesprochen werden.“

Weltweit wird jährlich am 20. November der Internationale Tag der Trans*-Erinnerung gefeiert. Mit öffentlichen Veranstaltungen wird der Menschen gedacht, die Opfer von Transphobie und Hass geworden sind. Ziel ist, den Opfern der Gewalt Gesicht und Stimme zu geben und zu fordern, dass Trans* ein von Gewalt freies Leben führen und bürgerliche Rechte ausüben können. Im vergangenen Jahr wurde dieses Gedenken international in über 180 Städten von über 20 Ländern durchgeführt. In Berlin gab es unter anderem eine Kundgebung am Arbeitsplatz von Trans*sexarbeiterinnen, dem Straßenstrich in der Frobenstraße.

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