Der Schriftsteller Henning Mankell hat dieser Tage in einem Artikel der Frankfurter Rundschau beklagt, dass die Zuschauer während des Irak-Krieges von einer Flut von Bildern begraben worden seien, so dass sie die Bilder, die sie nicht sahen, vergessen hätten. Er nennt diese fehlenden Aufnahmen »Bilder der Entscheidung«. Zu ihnen rechnet er beispielsweise Aufnahmen aus der Planungsphase des Krieges, als im Weißen Haus der Präsident und seine Berater Strategie und Taktik des militärischen Angriffes absprachen.
Mankells Kritik an der Berichterstattung wünscht sich vielleicht nicht noch mehr Bilder, aber mehr an wichtigen und richtigen Bildern. Die Kameras sollten, so könnte man seinen Gedanken operationalisieren, nur besser justiert werden. Sie sollten nicht nur auf die Präsentation von Entscheidungen (etwa bei Pressekonferenzen) gerichtet werden, sondern auf den Prozess der Entscheidungen selbst. Man könnte sich vorstellen, es gäbe nicht nur eine Webcam in Bagdad, die den ganzen Tag Livebilder der Innenstadt liefert, sondern auch eine im Weißen Haus, die uns an den Briefings und Konsultationen mit Ton Anteil nehmen lässt. Aber sähen wir dann wirklich das, was Mankell die Entscheidung nennt? Um den Zweifel an dieser Annahme zu begründen, sei ein auf den ersten Blick unziemlicher Vergleich gewählt.
In der vorletzten Woche übertrug der Pay-TV-Sender Premiere live die Endspiele um die deutsche Eishockeymeisterschaft, die schlussendlich die Krefelder Pinguine gewannen. Die Deutsche Eishockeyliga (DEL) hat anders als viele andere Sportarten seit einigen Jahren Fernsehbilder als Beweismittel für den Schiedsrichter zugelassen. Sollte der sich nicht sicher sein, ob sich der Puck vor oder hinter der Torlinie befunden hat, kann er das aufgezeichnete Bild einer oberhalb des Tores angebrachten Kamera studieren - in Vor- und Rückwärtsgang, in Zeitlupe und in Standbildern. Wer glaubt, das brächte den Schiedsrichtern mehr Sicherheit bei ihren Entscheidungen, sah sich in dieser Finalserie getäuscht.
Denn beim vierten Spiel zwischen Krefeld und Köln am 19. April versagte der Schiedsrichter - dessen Name hier aus Gründen der Fairness nicht erinnert werden soll - den Kölner Spielern ein klares Tor. Der gute Mann hatte sich durch Proteste der Krefelder Spieler wie Zuschauer irritieren lassen, die eine Regelverletzung durch den Kölner Stürmer beim Erzielen des Tores gesehen haben wollten. Der Schiedsrichter fuhr an die Bande und schlüpfte in einen kleinen Verschlag, in dem ihm ein Krefelder Offizieller mit Vereinsschal um den Hals die Szene der erwähnten Kamera mehrfach vorspielte. Danach entschied er sich unter dem Jubel der Krefelder dafür, das Tor nicht zu geben.
Für die Zuschauer, die diese Szene bei Premiere komplett gesehen hatten und eben nicht nur aus der Perspektive der Torraumkamera, war dies eine absolute Fehlentscheidung. Denn der Schiedsrichter hatte nicht an den Kontext der von ihm betrachteten Videobilder gedacht. So sah es aus der Perspektive der Torraumkamera aus, als stünde der Kölner Spieler bereits im Torraum, ehe der Puck frei lag. In Wirklichkeit war der Puck aber nach dem Schuss eines anderen Kölner Spielers - unsichtbar für die Torraumkamera - vom Körper des Torwarts abgeprallt. Erst jetzt fuhr der Kölner Stürmer in den Torraum und beförderte den freiliegenden Puck ins Tor. Statt ein vermeintliches Torraumabseits zu ahnden, hätte der Schiedsrichter auf Tor erkennen müssen.
Es war nicht das einzige Malheur, das den Kölner Haien mit den Schiedsrichtern und dem Videobeweis in den Play-Off-Spielen widerfuhr. Bei einem anderen Spiel hatte ein anderer Schiedsrichter nach Betrachten der Videobilder auf Tor gegen Köln entschieden, obgleich der Puck nachweislich nicht die Torlinie überschritten hatte. Hier hatte der Schiedsrichter Bilder einer Kamera betrachtet, die nicht exakt über der Torlinie angebracht war sondern einige Meter weiter vorne. Diese Kamera verzeichnet selbstverständlich die Linie. Was auf ihren Bildern scheinbar real ist, dass der Puck die Linie überquert hätte, muss es in Wirklichkeit gar nicht sein. Was wiederum die ergänzenden Bilder anderer Kameras (etwa aus dem Tornetz) bewiesen. Hier stellte erst die Montage von Einzelbildern durch die Regie von Premiere fest, was dem bloßen Augen verborgen blieb.
Man könnte diesen Vergleich der Kriegsberichterstattung mit der von einem Sportereignis unziemlich finden. Nur hat sich eben diese Kriegsberichterstattung längst der des Sportes bis zur Ununterscheidbarkeit angeglichen. Dafür stehen die pausenlosen Liveübertragungen, der Einsatz von Miniaturkameras, die vielen neuen field interviews mit den Soldaten und die zahllosen Expertengesprächen mit Veteranen. Wenn man den Krieg zu einem Event stilisieren will und vermutlich aus innenpolitischen Gründen auch muss, dann bleibt nur diese Sportifizierung der Kriegsberichterstattung. Das mag man mit Recht kritisieren und beklagen. Aber man kann - wie das Eishockeybeispiel lehrt - auch daraus lernen.
Jedes Fernsehbild ist von einem bestimmten Standpunkt, mit einer festgelegten Perspektive, mit einem vorgeschriebenen Zweck aufgenommen und es wird nach Filterung, Schnitt und Bearbeitung interessengeleitet ausgestrahlt. Das festzuhalten und darauf bei jedem gesendeten Bild zu beharren, bedeutet wiederum nicht, dass das jeweilige einzelne Bild nicht Elemente enthalten kann (oder diese sichtbar gemacht werden können), die mit all diesen Standpunkten, Perspektiven, Zwecken und Interessen nicht identisch sind. Deshalb lohnt es sich, die gesendeten Bilder zu studieren, nach ihrer Herkunft zu fragen, ihre Details festzuhalten und ihre Interpretationen in den Kontext der Ereignisse wie ihrer Begründungen zu stellen.
Nicht noch mehr oder vollkommen andere Bilder sind die Lösung, sondern die Anstrengung, sich beim Betrachten der Fernsehbilder des Verstandes zu bedienen.
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