Zu den großen Missverständnissen im Journalismus zählt die Vorstellung, Pressekonferenzen würden für die Presse abgehalten. In Wirklichkeit sind sie Reklameveranstaltungen für diejenigen, die sie organisieren und die sich dort präsentieren. Das war immer schon so, wurde aber noch schlimmer, als die Fernsehanstalten anfingen, Pressekonferenzen live auszustrahlen. Ob der amerikanische Verteidigungsminister, der Kölner Presse-Staatsanwalt oder der FDP-Parteichef - sie alle stellen sich mittlerweile weniger den Fragen der Journalisten als den Kameras und Mikrophonen der Sender, die die zum Ereignis hochstilisierte Pressekonferenz veranstalten.
Was Phoenix, n-tv und N24 Recht ist, mögen sich ARD und ZDF gedacht haben, ist uns billig. Deshalb übertragen sie abwechselnd täglich die Pressekonferenzen der deutschen Nationalmannschaft in Portugal live. Das ist absurd, weil alle Verantwortlichen und Beteiligten wissen, dass auf ihnen nichts Neues verkündet wird, ja dass die Hauptaufgabe von Rudi Völler, Michael Skibbe und den jeweiligen Spielern darin besteht, jedweden Eindruck von Information aus ihren Anmerkungen und Antworten strikt fern zu halten. Sie errichten - mehr oder minder geschickt - sprachliche Zäune und Wälle, hinter denen sie das Besondere oder Neue verstecken, so wie das Trainingsgelände mit Matten gegen die neugierigen Blicke der Kameras geschützt wurde. Die übertragenden Sendeanstalten stört das nicht. Sie bleiben beim Ritual, jeden Tag nach Portugal zu schalten.
Auch wir Zuschauer gewöhnen uns an das Mantra, mit dem Pressechef Harald Stenger im breitesten hessischen Dialekt die Namen der fragenden Journalisten aufruft, die dann in die Kamera feixend erklären, dass sie zwar keine Antwort auf ihre Frage erwarten, es aber dennoch probieren wollen. Wichtiger als ihre Frage scheint diesen Männern und wenigen Frauen die Nennung von Name und Medium durch den Moderator Stenger zu sein, der ihnen damit live quasi eine Anwesenheitsbescheinigung ausstellt, die bei den jeweiligen Spesenabteilungen der entsendenden Häuser nicht überhört werden kann. Seht und hört, sagen die braungebrannten Gesichter oberhalb der Freizeithemden, wir sind wirklich in Portugal und wir arbeiten hier hart, was man daran sehen kann, dass wir uns einem solchen Pressekonferenz-Unsinn mit Leib und Seele aussetzen.
Was dem Fußball solche Pressekonferenzen, ist der Politik der Auftrieb in Fernsehstudios an einem Wahlabend. Auch am Sonntag, den 13. Juni, an dem die Europa-Wahl und die Landtagswahl in Thüringen stattfanden, konnte man wieder viele ungelenk geführte Interviews mit Politikern bewundern. Ob gewählt oder nicht, vom Wähler abgestraft oder belohnt, mit Zukunftsaussichten oder ohne, zunächst einmal ignoriert jeder Politiker die gestellte Frage, um zunächst einmal den Wählern (heute sagen selbst und besonders gern die übelsten Chauvinisten: "Wählerinnen und Wähler") zu danken und dann auf die politischen Überlegungen der nächsten Tage hinzuweisen. Das klingt stets gleich und weist nur selten eine Überraschung auf. Am Sonntag, an dem das bislang schönste Spiel der Europameisterschaft (England-Frankreich) stattfand, waren es immerhin die glücklichen Gesichter der Unionspolitiker unter Führung von Angela Merkel, die angesichts der großen Verluste der Sozialdemokraten die eigenen kleineren nicht nur verschmerzen, sondern glatt ignorieren konnten. Und das Antlitz von Franz Müntefering, der aussah wie in Stein gemeißelt und der die große politische Perspektive der nächsten Bundestagswahl beschwor, um über die dramatischen Niederlagen des Abends hinwegzukommen.
Das Interview des Abends führte Sigmund Gottlieb um 18.43 im Ersten Programm mit dem bayerischen Ministerpräsidenten, Edmund Stoiber. Vor dem Fernsehapparat hatte man die seltene Gelegenheit, sich allein auf Mimik und Gestik der beiden Gesprächspartner zu konzentrieren. Denn Bild und Ton wurden mit einem Abstand von anderthalb Sekunden ausgestrahlt. Derart asynchron fiel die besondere Begeisterung auf, mit welcher der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunk seinem Ministerpräsidenten die Fragen entgegenbrachte. Der Begriff "liebedienerisch" wäre dafür noch untertrieben. Breitest grinsend animierte der angesichts des Wahlergebnisses sichtlich enthusiasmierte Gottlieb den Politiker zu längeren (und wie immer bei Stoiber nicht sprachunfallfreien) Reden. Es entstand ein surrealer Dialog, der angesichts der asynchronen Inhaltsleere an die schönsten Loriot-Sketche erinnerte. Konsequent, dass die Regie das Gespräch nicht abbrach, sondern dass an seinem Ende sich nur der Moderator Wolfgang Kenntemich für den technischen Defekt der Schaltung entschuldigte. Die Regie hatte erkannt, dass nicht zählte, was Gottlieb und Stoiber sagten, sondern dass sie es live in der ARD taten.
Das verband dieses in die Fernsehgeschichte eingehende Interview mit den Pressekonferenzen der Europameisterschaft, so wie Sigmund Gottlieb dem Sportconferencier seines Senders, Waldemar Hartmann, physiognomisch immer ähnlicher wird.
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