Mitte, nein, Anfang der achtziger Jahre wagte Arno Schmidt den Sprung. In einem dicken Buch kam er ostwärts und stand plötzlich in Leipzig-Reclams merkwürdigem Braun vielfach hinter den Scheiben DDR-deutscher Zeitungskioske. Kein Mensch kaufte ihn. Nicht in dem vorpommerschen Dorf, der vorpommerschen Kleinstadt, in der ich lebte. Niemand. Ich auch nicht. Denn keiner kannte ihn.
Ich kannte Heiko Schmidt. Und mochte ihn. Heiko Schmidt war ein Müßiggänger. Mit einem kaputten Plattenspieler, den Fingern eines Gynäkologen und einer Gier nach großen Wassern lag er auf dem Bett, langnasig, die Gegend um den Mund schon damals gefurcht, und rauchte. Ich saß in seinem Zimmer auf dem einzigen Stuhl. An einem Bindfaden zog er den Arm des Plattenspielers langsam über die schwarze, rotierende Scheibe. Mama, Mama, Mama schrie die Single immerzu, das war eine schwierige Stelle. Hier war der Sprung in der Platte so stark, dass er der Nadel am zu schwachen Arm herüber helfen musste. Er grinste ob seines lässigen Erfolgs, und seine mageren, nackten Fersen, ungewaschen, erinnerten mich an die Füße eines Ziegenbocks. Dann drehte er sich um, langte unters Bett und hob ein Buch auf.
"Ein altes Ding: klein; zwei Meter lang, zwei breit: Oder zwei´nhalb höchstens." So beschreibt Arno Schmidt "Eine graue Bretterhütte!", das Versteck seines Fauns vor Welt und Wirklichkeit: Krieg.
Heiko und ich saßen auf der flachen Stufe an der Rückseite des Kiosks.
Kommst du mit segeln, fragte er.
Gerade eben hatte er mit einem seiner langen Finger durch den engen Hals einer großen Wasserflasche einen Strohhalm heraus gefischt. Das konnte keiner von uns, und sein Finger schien vor meinen Augen noch zu wachsen. Ganz anders als sein Boot, eine Schmidtsche Hütte, das zwar nicht zwei breit, aber höchstens zwei´nhalb lang war und dauernd zu schrumpfen schien. Und schöpfen musste man ständig, wenn man mitfuhr, hatte ich gehört. Jetzt fragte er mich. Ich war noch nie segeln, von keinem dazu je eingeladen. Fehlt nur noch, dass der Wind auffrischt, dachte ich. Er aber starrte durch die schwach beleuchteten Scheiben des Kiosks.
Heiko Schmidt, ein Faun der Schilfwälder, die es damals noch zahlreich gab (davor, dazwischen Wasser-Lichtungen von der Größe Seenweite mal Himmelshöhe), Heiko Schmidt kaufte sich Arno Schmidt.
Beim Lesen am Abend auf dem Kahn legte er sein Gesicht in Erwachsenenfalten, kicherte, wieherte, hatte seine langen Finger wohl hier und da als Lesezeichen in dem umfangreichen Bändchen, war zu dieser Zeit schon wisserisch, sehend, neugierig genug. Ich selbst las das Buch nicht. Damals nicht.
Ich besorgte mir den Band, worin Aus dem Leben eines Fauns und noch von anderen, aus der Bahn geratenen, fantastischen Existenzen berichtet wurde, erst Jahre später. Doch dann massenhaft. Ich übernahm nämlich den Re-Import Arno Schmidts aus dem Osten in den Westen. Freunde hatten im ummauerten Teil Berlins ein Buchantiquariat, hier ging der zu Reclam Ost gekommene Arno weg wie warme Semmeln. Besorg so viele du kannst, sagte Eva. Und ich besorgte. Sie kam nach Ostberlin, packte sorgfältig alle Bücher ein, die ich landesweit an Zeitungskiosken für zwei Mark fünfzig das Stück eingesammelt hatte, schaffte sie ins Lädlein in der Kolonnenstraße und brachte sie dort an den Käufer.
Da aber hatte ich meinen Freund Heiko längst aus den Augen verloren.
Nur so viel ist klar: Keiner von uns beiden ging jeden Morgen mit der Aktentasche unterm Arm ins Büro. Eher ist vorstellbar, dass Heiko, na ja: mit einem Büro unterm Arm in eine Aktentasche ging. Das ja. Um sich dort auszuruhen. Im matten Dämmer zu lesen.
Es gab damals eine Versammlung, zu der wir mussten. Wo keine Wahl ist, wird ja viel gewählt. Aber Heiko Schmidt bewegten an diesem Nachmittag ganz andere Probleme. Kaum war Ruhe im Saal, löste er umständlich seine Schnürsenkel. Geradezu andächtig weitete er die Schäfte seiner hohen Schuhe. Mit Neugier und Erstaunen verfolgten einige Blauhemden in der Umgebung sein Tun. Die meisten versuchten, es zu ignorieren, wurden aber von den sich immer häufiger kreuzenden Blicken eingesponnen. Bedächtig zog Heiko seinen linken Schuh aus. Den Schuh zum Gesicht hebend, steckte er seine lange Nase in den Schaft und roch daran. Jetzt fielen erste Oberkörper ruckartig nach vorn, Hände fielen auf Münder. Er zog sich den rechten Schuh aus. Wiederum prüfte er eingehend den Geruch. Währenddessen schritt die Wahl voran. Behaglich streifte sich Heiko die Socken von den Füßen, zuerst den einen, dann den anderen. Er klopfte sie vorsichtig aus, zog sie glatt, hob sie in Richtung seines Gesichts, um in Augenschein zu nehmen und zu riechen. Er hängte sie auf die Lehne des Stuhls vor ihm, auf dem ein Blauhemd nach vorn gebeugt saß.
Den bitte ich um sein Handzeichen.
Ich sah, wie Schmidt mit seinen langen, schlanken Händen seinen Faunfuß umfasste und heranzog. Das schmale Gesicht näherte sich dem Fuß behutsam, besah ihn sich aufmerksam, beinahe sorgenvoll wie ein Arzt.
Gegenstimmen?
Schmidt massierte wie abwesend.
Stimmenthaltungen?
Er ließ das nichtirdische Körperteil behutsam zurück zur Erde sinken, als hätte er es eben, nach schwerer Krankheit, wieder gewonnen. Nicht ein Mal hob er die Hand. Lächelte wie abwesend, sah niemanden an.
Lese ich heute was von A.S., denke ich vor allem an Heiko, an seinen kennerischen Blick. An seinen Schalk und sein Fremdsein unter uns, obwohl er doch kein Schriftsteller war, obwohl er doch alle Geschichten tatsächlich erlebte, anstatt sie aufzuschreiben. Ging es ihm damals im deutschen Nordosten wie dem Büchlein mit dem exotischen Titel im engen Gepferch des Zeitungskiosks? Fand er in dem Buch eine nur für ihn bestimmte Nachricht? So wie ich heute in manchem Arno einen Heiko wiederfinde?
So muss es wohl gewesen sein.
So muss es wohl sein.
Dirk Werner, 1961 in Gera geboren, arbeitete als Kellner, Kraftfahrer, Pfleger, Friedhofsarbeiter, Spielzeugverkäufer. Er leitet Fotoprojekte und lebt als Filmvorführer und Autor in Esslingen/Neckar.
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