Der pinkelnde Nikolaus aus Braunschweig

Braunschweiger Zeitung: Am 6. Dez. 2021 ließ die Braunschweiger Zeitung den Nikolaus mit den Worten "Natürlich komme ich auch zu Ungeimpften" in ein Paar Schuhe pinkeln. Ein Höhepunkt der Diffamierungs- und Hetzkampagne, der an Schlimmes in der Geschichte erinnert

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Am 6. Dez. 2021 ließ die Braunschweiger Zeitung den Nikolaus mit den Worten "Natürlich komme ich auch zu Ungeimpften" in ein Paar Schuhe pinkeln. Ein Höhepunkt der Diffamierungs- und Hetzkampagne, die an das Nazi-Hetzblatt "Der Stürmer" des Julius Streicher erinnert.

Sie können diese Karikatur hier sehen:

https://www.nachdenkseiten.de/?p=91214#h14

Die Diffamierungs- und Hetzkampagne gegen die "Ungeimpften" lief zu dieser Zeit auf Hochtouren, parallel zu einer Diskriminierung, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ihresgleichen sucht.

Erreicht wurde damit eine Spaltung der Gesellschaft, die bis heute andauert. Allmählich wird immer klarer, dass zur Überwindung dieser Spaltung nur eine Versöhnung durch eine echte Aufarbeitung, mit einer aufrichtigen Entschuldigung der Täter, führen kann. Viele sträuben sich noch dagegen und versuchen mit halbherzigen Rückzügen und einem "Wir müssen jetzt nach vorne schauen" sich darum herum zu mogeln. Was ihnen aber nichts nützen wird.

Allmählich werden auch im sog. politischen und medialen "Mainstream" Stimmen hörbar, die eben eine solche wirkliche Aussöhnung fordern und die Dinge, die im Rahmen dieser Hetz- und Diskriminierungskampagne gelaufen sind, beim Namen nennen.

Die "Berliner Zeitung" veröffentlicht jetzt eine Artikelserie, die sich des Themas "Aufarbeitung von Corona" annimmt. Die diskriminierende und herabsetzende Behandlung der "Ungeimpften" nimmt dabei einen großen Raum ein. Alle Artikel finden Sie hier: https://www.berliner-zeitung.de/topics/corona-debatte.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki schrieb dort am 10. Dezember 2022:

"Wer individuelle Gründe für sich geltend machen wollte, sich nicht impfen zu lassen, wurde im Diskurs gnadenlos überrollt, gesellschaftlich geächtet, mit schweren Nachteilen bedroht und als unsolidarisch gescholten. [...] Als ich am Ende des Jahres 2021 im Interview mit der Zeit erklärte, vielen Impfpflichtbefürwortern scheine es im Hinblick auf die Ungeimpften um „Rache und Vergeltung“ zu gehen, brauste ein medialer Sturm los, der auch für mich den Rahmen des bisher Erlebten sprengte.

[...]

was wurde Menschen zugemutet, denen in einem solch aggressiven Klima tatsächlich die grundsätzliche gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wurde und die durch politische Maßnahmen in eine unentrinnbare Entscheidungssituation gebracht wurden? Warum hielt es ein großer Teil der politischen, medialen, gesellschaftlichen Eliten für geboten, von Einzelnen eine solche Geste der erzwungenen Unterwerfung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu fordern als Voraussetzung dafür, dass sie als dessen Teil wieder akzeptiert würden?"

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/corona-li.295521).

Im "Focus" schrieb der Kolumnist Jan Fleischhauer ebenfalls am 10. Dezember 2022:

Unbarmherziger Ton

Im Netz gibt es eine Website, die sich auf Vergangenheitsbewältigung spezialisiert hat. „Ich habe mitgemacht“ heißt sie. Der Betreiber postet dort Sätze aus den schwarzen Monaten der Krise. Anfang der Woche war er bei Nummer 1581 angekommen. Es gruselt einen, wenn man sich durchscrollt. Der Ton ist so unbarmherzig, wie man ihn ansonsten nur aus Diktaturen kennt. Von heute aus gesehen sind es Botschaften aus einer fernen Welt, dabei sind einige Zitate lediglich ein paar Monate alt.

Da ist davon die Rede, dass die Luft für die Ungeimpften dünn werden müsse. Dass man sie so lange aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließen müsse, bis sie klein beigegeben hätten, dass sie eine Bedrohung darstellten, der man sich entledigen müsse.

Palmer wollte Beugehaft

Unter den Wortführern waren auch nicht nur Lokalpolitiker wie die Hamburger Grünen-Abgeordnete und Fachsprecherin ihrer Partei für Antidiskriminierung, die mit dem Satz verewigt ist, dass sie jedem freiwillig Ungeimpften gern kommentarlos aufs Maul hauen würde. Von der Berliner Gesundheitssenatorin findet sich der Satz, dass sie allen empfehle, jeden Kontakt zu Ungeimpften zu vermeiden. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ist mit dem Plädoyer für Beugehaft und Rentenkürzungen vertreten.

[...]

Es ist, als ob ein Fieberanfall das Land befallen hätte, und das nicht nur verbal. Viele haben das vergessen, aber in München war es zwischenzeitlich sogar verboten, sich mit einem Buch auf einer Parkbank niederzulassen. Andernorts rückte die Polizei aus, um Kinder vom Rodelberg zu vertreiben oder die Weitergabe einer Bratwurst am Bratwurststand zu unterbinden, weil das Teilen einer Wurst in der Öffentlichkeit als Ordnungswidrigkeit galt."

https://www.focus.de/politik/deutschland/schwarzer-kanal/die-focus-kolumne-von-jan-fleischhauer-klima-lockdown_id_180442776.html

Und genau hierher, als einer der vielen "Glanzpunkte" dieses "Fieberanfalls", gehört auch die Hetz-Karikatur der Braunschweiger Zeitung. Offenbar blieb sie auch vor einem Jahr nicht ohne Widerspruch. Ein Leser schrieb an das Blatt, die Karikatur sei auf dem Niveau des Nazi-Hetzblatts "Der Stürmer".

Zum "Stürmer" hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Stürmer

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Der_Stürmer._Deutsches_Wochenblatt_zum_Kampf_um_die_Wahrheit

https://research.calvin.edu/german-propaganda-archive/sturm28.htm

https://research.calvin.edu/german-propaganda-archive/sturmer.htm

https://www.deutschlandfunk.de/der-stuermer-geschichte-eines-hass-organs-100.html

und eine Nummer vom Sept. 1934: http://ia600208.us.archive.org/7/items/Der-Stuermer-1934-38/DerStuermer-1934Nr.388S.ScanFraktur_text.pdf.

Nun sind Nazi-Vergleiche immer problematisch, aber es ging ganz unabhängig auch mir so: Beim ersten Blick auf diese Karikatur dachte ich an den "Stürmer". Bei allen Unterschieden: Es ist der Blick auf Andere, der hier 2021 und 1933 ff. verbindet.

Der Hinweis auf den "Stürmer" durch den Leser vor einem Jahr war ganz offensichtlich ein Volltreffer. Was sonst hätte die Braunschweiger Blattmacher sonst veranlassen sollen, sich sofort einen "Experten" zu suchen und sich so zu beeilen, dass dessen diesen Vorwurf zurückweisender Artikel schon am folgenden Tag, am 7. Dezember 2021, fertig war und veröffentlicht wurde?

Sie finden ihn (leider hinter einer Bezahlschranke) hier:

https://www.braunschweiger-zeitung.de/mitreden/antworten/article234039405/Pinkelnder-Nikolaus-Serioeses-Anliegen-verpackt-in-derbem-Witz.html.

Der so schnell schreibende "Experte" ist Professor Dr. Thomas Knieper, der an der Universität Passau "Journalistik und Strategische Kommunikation" lehrt. Knieper hat 2002 ein Buch mit dem Titel "Die politische Karikatur. Eine journalistische Darstellungsform und deren Produzenten" veröffentlicht. Nun, der Versuch des Herrn Professor, die Braunschweiger Karikatur von der Nähe zum "Stürmer" wegzuschreiben, ging meiner Meinung nach gründlich in die Hose. Er setzte auf die Verleumdung der Ungeimpften noch eins oder zwei drauf und verschlimmbesserte die ganze Sache eher noch weiter. Oder, um im Bild des Nikolaus zu bleiben: Der Herr Professor wollte einen besonders prächtigen Strahl hinkriegen und hat sich doch bloß auf die Schuhe gepinkelt.

Verräterisch schon, wie Kniepers Beitrag vorgestellt wurde: "Experte Thomas Knieper ordnet die Zeichnung ein." Vorsicht: Wenn Journalisten oder "Experten" "einordnen", heißt das im Klartext: Hier sagen wir dir jetzt, wie du über dies oder das zu denken hast. Hier fängt jetzt das "Betreute Denken" an. Also: Nix wie weg, wenn "Journalisten" und "Experten" "einordnen"!

Der Titel von Kniepers Beitrags lautet: "Pinkelnder Nikolaus. Seriöses Anliegen, verpackt in derben Witz." Menschen zur Impfung zu bewegen, mag durchaus ein seriöses Anliegen sein. Das sollte auch derjenige zugeben, der von der Impfung nicht überzeugt ist. Auch er muss den Impfbefürworter ernst nehmen, dass er ihm das als ein "seriöses Anliegen" zubilligt. Anders ist es mit dem "derben Witz". Da versucht Knieper schon das gleich mal als Faktum zu setzen, worauf er dann hin argumentieren will. Nein, das ist eben kein "derber Witz", sondern Hetze wie aus dem Lehrbuch, die dazu dient, andere zu entwürdigen und herabzusetzen.

Wer würde heute noch Witze gegen Juden, Schwarze, rassistisch konnotierte Witze als "derben Witz" bezeichnen? Vielleicht diejenigen, die solche Witze erzählen oder diejenigen, die besonders laut darüber lachen. Hab' dich doch nicht so, du N*!.

Julius Streicher und den primitiven Antisemitismus seines "Stürmer" fanden auch nicht alle Nazibonzen gut. Ein Joseph Goebbels, der Streicher verabscheute und den "Stürmer" 1938 kurzfristig sogar verbieten ließ, wäre vielleicht auch auf den "derben Witz" gekommen.

So rudert Knieper vom "Stürmer" weg: "Die Karikatur sei auf dem Niveau des NS-Hetzblatts „Der Stürmer“, schreibt ein Leser. Die abstoßenden Karikaturen im Stürmer hatten eine ganz andere, eine hetzerische Qualität. Da ging es um die willkürliche Herabwürdigung, um ein Niedermachen von Gruppen. Das ist etwas völlig anderes."

Nein, ist es eben nicht. Es ist ganz genau das. Die Braunschweiger Karikatur HAT "eine hetzerische Qualität". Und es geht ganz genau "um die willkürliche Herabwürdigung, um ein Niedermachen von Gruppen". Was denn sonst?

Knieper weiter: "Hier [bei der Braunschweiger Karikatur] hingegen wird niemand entmenschlicht." Hierüber könnte man streiten, ob diese Karikatur tatsächlich so weit geht. Ich meine, sie tut es ein gutes Stück eben doch. Auch wenn sie dabei das "Niveau des Stürmer" nicht erreicht. Was soll es denn sonst sein, wenn man pars pro toto (lateinisch: einen Teil für das Ganze nehmend) auf die Schuhe eines Anderen pinkelt?

Das Urinieren auf etwas, im schlimmsten Fall auf andere Menschen, hat hohe Symbolkraft. Zum Beispiel hier

Neonazis urinieren auf Gedenktafel für NSU-Opfer in Nürnberg

https://www.nordbayern.de/region/nuernberg/neonazis-urinieren-auf-gedenktafel-fur-nsu-opfer-in-nurnberg-1.5001262

Video of man urinating on "Black Lives Matter" at U of Michigan goes viral

https://www.youtube.com/watch?v=JqiTEFfU0hY

Das wird im Film als „crime“ bezeichnet…

Fury as white SA student urinates on books and laptop of black student

https://www.africanews.com/2022/05/17/fury-as-white-sa-student-urinates-on-books-and-laptop-of-black-student/

oder in diesem Film, in dem zu sehen ist, wie US-Soldaten auf die Leichen getöteter Taliban pinkeln:

https://www.youtube.com/watch?v=rVNTMLUcvsw.

Das Video erwies sich als echt. US-Verteidigungsminister Leon Panetta und US-Außenministerin Hillary Clinton verurteilten die Aktion scharf. Das US-Verteidigungsministerium leitete eine Untersuchung ein und erklärte, die im Video gezeigten Handlungen "stünden im Widerspruch zu unseren Kernwerten". Das Video löste in Afghanistan, im Nahen Osten und auch weltweit Empörung aus. Hier gibt es den Wikipedia-Artikel dazu: https://en.wikipedia.org/wiki/Video_of_U.S._Marines_urinating_on_Taliban_fighters.

An Berichten wie diesen ist unsere Geschichte vom Nikolaus 2021 doch zeitlich und geistig näher dran als am "Stürmer".

Knieper weiter: "Ein weiterer Unterschied ist: Während Juden im Nationalsozialismus keine Gelegenheit hatten, der Stigmatisierung zu entgehen, haben Ungeimpfte heute viele Möglichkeiten, dem gesellschaftlichen Druck auszuweichen: etwa indem sie bestimmte Orte meiden oder sich einfach impfen lassen." Das stimmt natürlich. Das unterscheidet Verfolgung und Diskriminierung wegen der "Rasse", der Volkszugehörigkeit oder des Geschlechts von anderen Arten der Diskriminierung. Ein Jude bleibt immer ein Jude, ein Schwarzer immer ein Schwarzer, ein Pole immer ein Pole, eine Frau immer eine Frau (nun ja, heutzutage meint man Letzteres ja besser zu wissen).

Der "Ungeimpfte" soll für Knieper also "bestimmte Orte meiden", sprich, seine Diskriminierung, die im weitgehenden Ausschluss aus der Gesellschaft besteht, eben hinnehmen, oder aber sich impfen lassen. Das könnte er ja jederzeit machen, und dann würde er auch nicht mehr diskriminiert.

Ist eine Diskriminierung, bei der der Diskriminierte sich durch Unterwerfung der Diskriminierung entziehen kann, also weniger schlimm oder sogar gar keine "richtige" Diskriminierung? Eine interessante These. Werfen wir einen Blick in die Geschichte wie auch in die Gegenwart:

Fangen wir mit der Judenverfolgung an. Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Juden nicht wegen ihrer "Rasse", sondern wegen ihrer Religion verfolgt. Sie mussten sich nur taufen lassen und fortan den religiösen Pflichten wie die anderen Christen nachkommen. Statt "nur ein Pieks" "nur a bisserl Wasser?" Für Professor Knieper wäre es doch offenbar so gegangen. Wer hätte sich hier aufregen wollen?

Den "Ketzern", den Moslems in Spanien, der Bevölkerung in Lateinamerika ging es dann ähnlich. "Nur a bisserl Wasser! Und halt am Sonntag in die Kirch', gell?"

Umgekehrt geht's auch: Warum in Saudi-Arabien unbedingt Christ sein wollen? Werde Moslem und du hast deine Ruh'!

Wie ist es mit Oppositionellen und Regimekritikern in Diktaturen, autoritären und totalitären Systemen? Niemand wird verfolgt, der nicht widerspricht, und der die geforderten Ergebenheitsbekundungen (z. B. mit Hakenkreuz beflaggen, mit "Heil Hitler" grüßen, Mitglied bei "Kraft durch Freude" werden, und was es da noch so gab, vielleicht ja auch Studenten, die regimekritische Flugblätter verteilen, bei der Polizei melden) halt einfach mitmacht? Genau das ist die Logik des "sich einfach impfen lassen".

Knieper weiter: "Leute, die sich aus egoistischen Gründen nicht impfen lassen, inszenieren sich als Opfer". "Aus egoistischen Gründen?" Das ist Teil der Propaganda, die die Impfung als Akt der "Solidarität" verkauft hat. Was Humbug ist und schon damals Humbug war, was nur vor einem Jahr öffentlich nicht gesagt werden durfte. "Inszenieren sich als Opfer": "Sich inszenieren" ist negativ konnotiert und beinhaltet ja auch, dass es sich dabei nur um ein Täuschungsmanöver handelt, der Betreffende also gar kein "Opfer" ist. Ganz einfach wird den Leuten hier der Opferstatus abgesprochen.

Nach allem, was tatsächlich gelaufen ist, es sei nur noch einmal an die Zitate von Kubicki und Fleischhauer erinnert, eine weitere Verhöhnung, bei der man darüber streiten kann, ob es sich nun um "Hate Speech" handelt oder nicht. Zitieren wir noch einmal Wolfgang Kubicki in seinem Artikel, wo er über Begegnungen mit den sich angeblich als Opfer inszenierenden Menschen schreibt: "Diese individuellen Leidensschilderungen zeigen mir nicht nur, wie grausam die Kraft der Ausgrenzung in jenen Tagen auf viele gewirkt hat, sondern auch, wie wenige Identifikationsfiguren und Anknüpfungspunkte diese Menschen im öffentlichen Diskurs hatten. Kaum jemand ergriff damals öffentlich Partei, um diesen Menschen so etwas wie Halt oder Trost zu spenden."

Aber Knieper ist ja noch nicht fertig. Zitieren wir den Satz noch einmal von Anfang, damit uns der Zusammenhang nicht verloren geht: "Leute, die sich aus egoistischen Gründen nicht impfen lassen, inszenieren sich als Opfer, haben aber bei anderer Gelegenheit überhaupt kein Problem damit, Politiker mit Fackelaufmärschen einzuschüchtern – alles mit voller Absicht."

In der Tat war es nur drei Tage vor Kniepers Artikel, am 4. Dezember 2021, zu einem Fackel-Aufzug von etwa 30 Gegnern der Corona-Politik vor dem Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin in Grimma gekommen, während sie auch zu Hause war: https://www.tagesschau.de/inland/sachsen-fackel-protest-101.html.

Die Empörung in der Politik war groß, und das auch vollständig zu Recht, denn mit der Verlegung politischer Proteste in das private Umfeld der damit kritisierten Politiker wird klar eine Grenze überschritten, bei der der Protest in eine persönliche Bedrohung ausartet. Freilich war die politische Empörung nicht so recht glaubwürdig. Ob man die AfD nun mag oder nicht: Passiert so etwas vor den Häusern von AfD-Politikern, so empört das nur wenig (außer bei der AfD). Und das ist halt Doppelmoral.

Z. B. https://www.focus.de/regional/hamburg/antifa-lauert-hamburger-afd-frau-vor-privathaus-auf-die-entkommt-unbemerkt_id_24280156.html und https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2022/12/woldeit-afd-bedrohung-staatsschutz.html

Aber, was macht Knieper nun aus dieser Sache? Er setzt sprachlich "Leute, die sich nicht impfen lassen" gleich mit denen, die "bei anderer Gelegenheit überhaupt kein Problem damit [haben], Politiker mit Fackelaufmärschen einzuschüchtern". Merken Sie etwas? Dieser Propagandatrick ist eigentlich so billig, dass niemand darauf hereinfallen dürfte. "Alle Fackelmarschierer in Grimma sind Impfgegner". Stimmt. "Alle Kardinäle sind Menschen". Stimmt auch. "Alle Menschen sind Kardinäle". Stimmt nicht. "Alle Impfgegner sind Fackelmarschierer". Stimmt auch nicht. Aber genau das will uns Knieper hier unterschwellig erzählen. 30 Menschen waren bei dem Fackelaufmarsch in Grimma dabei, "Ungeimpfte" machten Anfang Dezember 2021 etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung aus, das sind 17,3 Millionen Menschen. Was für eine perfide und böswillige Unterstellung erlaubt sich Knieper hier!!

Mit dem angehängten "aus voller Absicht" setzt er noch einmal drauf, alles, sich nicht impfen zu lassen, sich als "Opfer zu inszensieren", Politiker vor ihrem Haus zu bedrohen sei bei diesen 17,3 Millionen eine klar geplante und ja wohl bösartige Taktik. Wenn das mal keine Super-Verschwörungstheorie ist!

Und Knieper versteigt sich zu derartigen Aussagen, obwohl uns doch ständig eingehämmert wird, dass man Einzelfälle nicht verallgemeinern dürfe. Vor allem, wenn es um Migranten geht. Man denke nur an die politischen Reaktionen auf den jüngsten Mord an einem Mädchen durch einen Migranten aus Eritrea in Baden-Württemberg. Nach dem Mord bat die Polizei, „keinen Generalverdacht gegen Fremde, Schutzsuchende oder Asylbewerber allgemein zu hegen oder solchem Verdacht Vorschub oder Unterstützung zu leisten“, um nur ein Zitat zu bringen (https://www.zeit.de/news/2022-12/06/illerkirchberg-kretschmann-warnt-vor-voreiligen-schluessen).

Wenn es aber um „Ungeimpfte“ und Kritiker der Impfung geht, sind solche Verallgemeinerungen völlig in Ordnung. Sehr krass kam das auch bei den Reaktionen auf den Mord an einem Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein am 18. September 2021 durch einen Masken-Verweigerer zum Ausdruck, für den vielfach pauschal alle Kritiker der Corona-Maßnahmen, vulgo „Querdenker“, mit in die Verantwortung genommen wurden (Hierzu anschaulich https://weltwoche.ch/daily/deutsche-doppelmoral-der-eritreische-messer-killer-von-illerkirchberg-streifte-ein-politisch-medialer-streichelzoo-erinnern-sie-sich-wie-tugend-waechter-ueber-den-tankstellen-mord-wueteten-c/).

Wenn wir also Kniepers Logik anwenden, könnte ein Satz herauskommen wie: „Leute, die aus egoistischen Gründen nach Deutschland einwandern, inszenieren sich als Opfer, haben aber bei anderer Gelegenheit überhaupt kein Problem damit, Mädchen mit dem Messer abzuschlachten – alles mit voller Absicht." Das würde Ihnen nicht gefallen? Mir auch nicht! Wer aber dem einen zustimmt und sich über das andere empört, leidet an Doppelmoral.

Ausdruck eines "Fieberanfalls", wie Fleischhauer meinte, "verrückt", wie er das alles auch nannte? Vielleicht. Ver-rückt in jedem Fall. Höchste Zeit auf jeden Fall für eine wirkliche Aufarbeitung von all dem, für ein wieder Gerade Rücken. Dem mögen sich die meisten, die dabei mitgemacht haben, wohl gerne entziehen. "Die Verantwortungsflüchtigen" nennt sie Michael Andrick in seinem Beitrag in der "Berliner Zeitung" vom 12. Dezember 2022. Er schreibt dort: "Wer sachlich haltlos und teils fanatisch gegen Ungeimpfte gehetzt und oft ihr Leben zerstört hat, der möchte jetzt ganz gern, dass wir alle eine „Lernerfahrung“ angesichts einer „Herausforderung“ gemacht haben. Wirklich? Unsere „Lehrmeisterin Pandemie“ hat Kinder terrorisiert, Existenzen vernichtet und Gesunde zu einer Therapie genötigt, die auch tödlich enden kann? Nein, das war die Pandemiepolitik der Ganz großen Koalition. Das Geschwurbel der Verantwortungsflüchtigen muss jetzt enden. Es verhöhnt die unschuldigen Opfer staatlich-medial-mitbürgerlicher Panikmache und Ausgrenzung."

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/corona-debatte-die-verantwortungsfluechtigen-li.296963

Die "Braunschweiger Zeitung" und Professor Knieper können auf jeden Fall sagen: "Wir haben mitgemacht"!

Lassen wir es jetzt mit Kniepers "Geschwurbel" gut sein. Die Schuhe des Herrn Professor sind eh schon völlig durchnässt. Ich hatte am 6. Dezember diesen Jahres bei der Redaktion der "Braunschweiger Zeitung" angerufen und gefragt, warum sie es denn jetzt zu Nikolaus versäumt hätten, die gute Gelegenheit zu ergreifen, um sich im Rückblick von heute für diese unsägliche Karikatur zu entschuldigen. Antwort: Ja, er gibt es weiter. Aber passiert ist in der darauffolgenden Woche bis heute nichts. Darum dieser Artikel.

Was auch noch ganz besonders perfide an dieser Karikatur ist: Für eine billige Hetzpropaganda wurde hier einer der wichtigsten Heiligen der christlichen Tradition missbraucht. Zahlreiche Legenden umranken den Heiligen Nikolaus, die ihn alle als Wohltäter und Menschenfreund zeigen. Jemand Anderem in die Schuhe zu pinkeln wäre wahrscheinlich eines der allerletzten Dinge gewesen, die ein solcher Mann getan hätte.

Dass sein Andenken im wahrsten Sinne des Wortes derartig beschmutzt wird, hat er nicht verdient.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dietrich Klose

Vielfältig interessiert am aktuellen Geschehen, zur Zeit besonders: Ukraine, Russland, Jemen, Rolle der USA, Neoliberalismus, Ausbeutung der 3. Welt

Dietrich Klose

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