Am Mittwoch rätselten die Hauptstadtjournalisten: Ja, wo sind sie denn? Es war klar, dass an diesem Abend erste Gespräche zwischen Union und SPD stattfinden würden, nur den Tagungsort hatte man nicht verraten – man wollte wohl aus den Fehlern der Jamaika-Verhandlungen lernen. Besser ist das, bloß keine Balkonbilder mehr. Getroffen hat man sich dann bei der CDU im Bundestag.
Es war eine Sondierung vor der Sondierung. Die Union machte klar, dass sie in den Gesprächen über die “Bildung einer stabilen Regierung“ - also eine große Koalition – sprechen möchte. Das kam wohl überraschend für die Genossen, die sich erstmal eine Bedenkzeit einräumten. Am Freitag verkündete Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus dann, dass
ndt-Haus dann, dass man in „konstruktive aber ergebnisoffene“ Sondierungsgespräche mit der Union eintreten werde. Der Parteivorstand fällte diese Entscheidung einstimmig, auf Empfehlung ihres Vorsitzenden. Auch Schulz spricht an diesem Tag von einer „stabilen Regierung“, meint damit aber nicht zwingend eine große Koalition.Mitte Januar soll dann ein erneuter SPD-Parteitag entscheiden, ob Koalitionsverhandlungen mit der Union aufgenommen werden. Eine Koalition mit Netz und doppeltem Boden.Windschief in der LandschaftKlaus Roth, Professor für Politik an der Freien Universität Berlin, sagt in seinen Lehrveranstaltungen gerne, die SPD stehe „ziemlich windschief in der Landschaft.“ Dieser Satz stimmt heute mehr denn je. Ihre 180° Wende in Sachen GroKo-Ende im November und ihre aktuellen Windungen haben der Partei massiven Schaden zugefügt. Sie können nur verlieren. Ordnungsverliebte Wähler hassen das Zeitspiel, sozialdemokratische Wähler hassen die große Koalition. Trotzdem ist „Ergebnisoffenheit“ seit einigen Wochen das Lieblingswort der Sozialdemokraten. Das ist der Fehler. Man müsste, ganz und gar nicht ergebnisoffen, den Konservativen sagen: Alles geht - nur keine Neuauflage der großen Koalition. Dann müsste sich die Union fragen, ob sie bereit ist, mit der SPD über eine Minderheitsregierung oder eine Kooperationskoalition zu sprechen. Sonst stünden eben Neuwahlen an. Doch die Sozialdemokraten lavieren, sind unsicher, beraten.Für die älteste Partei Deutschlands wäre zurzeit der größtmögliche Abstand zum politischen Gegner gerade groß genug. Aber irgendeiner muss das Land nunmal regieren. In einer Allianz mit der Union muss sich die SPD Freiheiten sichern. Das ginge am besten in einer Minderheitsregierung, die die Christdemokraten aber partout nicht wollen. Der Kompromiss wäre die Kooperationskoalition, in der die Sozialdemokraten zwar ein paar Minister stellen, jedoch nur die wichtigsten Themen – zum Beispiel die Haushaltspolitik – in einem Koalitionsvertrag vereinbart werden. In den nicht festgeschriebenen Bereichen wird parlamentarisch verhandelt. Diese Option gefällt der Union zwar auch nicht, aber dieses Zugeständnis müssen ihnen die Genossen abluchsen und es als ihren Preis für die Bildung einer Regierung verkaufen. „Die Versuchung zur 'freundlichen Unverbindlichkeit' ist die Ursünde des modernen Menschen“, hat Albert Camus geschrieben. Das gilt sicherlich für zwischenmenschliche Beziehungen, nicht aber für die Politik.Lambsdorff reloaded Seit den Achtzigerjahren sind die Unternehmensgewinne in die Höhe geschossen, während die Investitionen dramatisch gesunken sind. Der Neoliberalismus hat uns die Möglichkeit einer Transformation des Kapitalismus in postkapitalistische Verhältnisse geraubt. Die Sozialdemokratien waren lediglich Zuschauer dieser Entwicklung. Heute, Dekaden später, ist die Welt eine andere, eine durchweg globalisierte. Wie bekommt man den Neoliberalismus, von dem große Teile der Bevölkerung ganz und gar nicht profitieren, aus den Köpfen? Wie könnte eine auf Gerechtigkeit bedachte keynesianische Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert aussehen? Die Probleme sind heute komplexer – umso dringender wird eine Sozialdemokratie gebraucht, die um ihre Beantwortung ringt. Das hat sie in den letzten Jahren schmerzlich vermissen lassen; mit den bekannten Folgen.Ein kurzes Intermezzo – vier Jahre muss das wirklich nicht dauern – in Form einer möglichst unverbindlichen Zusammenarbeit mit Frau Merkel böte Zeit zum Nachdenken über diese großen Fragen. Dann, in zwei Jahren, könnten die Sozialdemokraten ihre wirtschaftspolitischen Ideen zu Papier bringen. Lambsdorff reloaded: Konzept für eine Politik zur Überwindung neoliberaler Strukturen und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – oder so ähnlich. Ein Schulz-Papier. Ein Scheidungsbrief vom Koalitionspartner. Ein Wahlkampf auf diesem sozialdemokratischen Sediment würde den Genossen Glaubhaftigkeit verschaffen, da sie sich nicht unter das Joch eines bis ins Detail festgelegten Koalitionsvertrages begeben mussten, bei dem sich die Menschen hinterher fragen, wer hier eigentlich was durchgesetzt hat – um im Zweifel der Bundeskanzlerin zu akklamieren. Unabhängigkeit bekommt man aber nicht geschenkt. Man muss sie sich erkämpfen. Teil der zwölfköpfigen Sondierungskommission der SPD werden, neben Martin Schulz, unter anderem auch die großen sozialdemokratischen Avantgardisten Thorsten Schäfer-Gümbel, Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Stephan Weil sein. Dann kann ja nichts mehr schief gehen.