Carola Obereigner biegt in einen schmalen, unasphaltierten Weg ein. Das Auto stellt sie auf dem Parkplatz der Kleingartenanlage am Fuß der Abraumhalde ab. Man könnte sagen, dies hier ist ihr „Basislager“, wenn sie sich zur Quelle ihres Ärgers aufmacht. Je näher man dieser Quelle kommt, desto unangenehmer der Geruch. Die Zunge wird pelzig, es riecht nach Chlor und Weichspüler. Direkt davor, mit Blick auf das Fördergerüst am Angersdorfer Grubenfeld, ist es fast unerträglich. „Das kriecht richtig durch die geschlossenen Fenster und Türen“, sagt die 52-jährige Vorsitzende der „Bürgerinitiative gegen eine Giftmüllregion Halle“. Sie wohnt direkt um die Ecke des zu einer Giftmülldeponie umfunktionierten ehemaligen Bergwerks.
Angersdorf ist ein Stadtteil der Saalekreis-Gemeinde Teutschenthal. Knapp 12.000 Menschen wohnen hier. Viele sind in den letzten Jahren abgewandert. Die Grube in Teutschenthal sorgt dieser Tage überregional für Schlagzeilen: 36 Bergmänner saßen vorige Woche nach einer Verpuffung unter Tage fest. Alle wurden befreit, es gab zwei Verletzte. Nach der Ursache für das Grubenunglück wird noch geforscht.
Wochen zuvor klagen die Anwohner in Teutschenthal „nur“ über den Gestank, den die Müllentsorgung ihnen beschere. Fährt man über die Landstraßen, befindet man sich meist über jenen Schächten, in denen zu DDR-Zeiten Kali und Steinsalz abgebaut wurden, bis der Staat das Werk 1982 schloss. Dabei beging er einen folgenschweren Fehler: Eigentlich hätte Versatz in die Hohlräume unter Tage gefüllt werden müssen, um die Schächte geologisch zu stabilisieren. Das geschah aber nicht. Jahre später gab einen „Gebirgsschlag“, bei dem das Ostfeld der Grube „im Dominoprinzip“ kollabierte, erinnert sich ein Anwohner. Dadurch wurde ein Erdbeben der Stärke 5,6 auf der Richterskala ausgelöst. Seismografen weltweit erfassten es.
Das Tor zur Hölle
Nach der Wende witterte die Treuhand eine Win-win-Situation: Privaten Firmen sollte erlaubt werden, Industrieabfälle in die Hohlräume der Schächte zu kippen, das würde automatisch zu ihrer Stabilität beitragen, so das Kalkül. Die Grube wurde für elf Millionen D-Mark verkauft. Fortan kam hier auch Müll aus dem europäischen Ausland zur Endlagerung an.
„Die machen das auf eigene Rechnung“, sagt Uwe Schaar vom zuständigen Landesamt für Geologie und Bergwesen (LAGB) in Sachsen-Anhalt. Mit „die“ meint er die Firma „GTS Grube Teutschenthal Sicherungs GmbH & Co. KG“, die täglich Aschen, Schlacken und belastete Bauabfälle in die bis zu 900 Meter tiefen Schächte verbringt. Im Jahr 2010 stand die GTS wegen illegaler Entsorgung von 11.000 Tonnen hochgradig toxischer Filterstäube in der Kritik. Von Uwe Schaar erfährt man, dass auch heute noch Filterstäube, die bei der Müllverbrennung anfallen, in den Schächten landen, außerdem Schlämme aus Industrie-Reinigungsanlagen.
Das „Tor zur Hölle“, von dem Carola Obereigner spricht, ist im Stadtteil „Teutschenthal Bahnhof“, fünf Autominuten von Angersdorf. Bis zu 900 Tonnen hochgiftiger Lkw-Ladungen kommen hier täglich an, um „für immer und ewig“ unter Tage zu verrotten, wie es der Grubentechnologe der GTS gegenüber einem MDR-Team formulierte.
„Die Region ist geologisch instabil“, warnt Michael Braungart von der Universität Lüneburg, Geschäftsführer der Environmental Protection Encouragement Agency (EPEA) in Hamburg. Er verweist auf das Atommüll-Lager Asse, in das Wasser eindrang. „Selbst wenn man den Giftmüll in Fässer füllen würde, wäre die Frage, wie lange diese Fässer halten.“
Das ist der Langzeitaspekt. Was Menschen wie Carola Obereigner aber vor allem wütend macht, ist ihre Wahrnehmung der Gegenwart. „Dass es in Angersdorf zu bestimmten Zeiten und bei bestimmten Witterungsbedingungen stinkt, kann man nicht wegdiskutieren“, sagt auch Schaar vom LAGB. Denn Teutschenthal Bahnhof ist „wettereinziehend“, wie es im Bergmann-Jargon heißt, Angersdorf hingegen „wetterausblasend“. Hier, am anderen Ende des Schachts, tritt der Gestank des unter Tage gebrachten Giftmülls über die abgeleitete Grubenluft, aus. Bis vor Kurzem haben auch die Menschen rund ums „Höllentor“ unter dem Geruch gelitten. Der Grund war ein Freilager für Industrieabfälle auf dem GTS-Gelände. Zwar war das Unternehmen bereits vor 15 Jahren von offizieller Seite zum Bau einer Lagerhalle aufgefordert worden, um immissionsrechtliche Bestimmungen einzuhalten; dem ist es aber nie nachgekommen. Weshalb das so lange toleriert wurde, dazu schweigt das LAGB und will Untersuchungen des Wirtschaftsministeriums abwarten. Auf eine Anfrage des Freitag reagierte die GTS nicht.
Dank einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist das Freilager seit August Geschichte. Den Angersdorfern ist damit nicht geholfen. Auf dem Weg hinunter von der Halde trifft man auf einen Mann, der in seiner Kleingartenparzelle werkelt. Vor allem am Wochenende fühle er sich vom Gestank belästigt, sagt er. Dann verbrächten seine Frau und er die meiste Zeit im Garten, in direkter Nachbarschaft zum Schachtausgang des Grubenfelds.
Obereigner kennt das. Die gebürtige Hallenserin ist 1996 hierhergezogen: Ruhe, ein schöner Garten, für ihr Haus habe sie damals „ordentlich Schulden gemacht“. Heute sei es wegen des Gestanks kaum noch etwas wert. Im April 2018 nahm sie ihn zum ersten Mal wahr. Erst hatte sie den Landwirt in Verdacht. Dann wurde sie skeptisch: „Wieso sollte der Bauer drei Tage hintereinander Gülle ausbringen? Vor allem, wenn gar kein Regen angesagt ist?“ Dass die Luft gerade seit vorigem Jahr so schlecht ist, erklärt das LAGB mit drei Abfallflüssigkeiten, die in Teutschenthal Bahnhof über längere Zeit verfüllt worden seien und vom Amt als geruchsauslösend identifiziert wurden. Obereigner, die sich selbst als „hyperaktiv“ beschreibt, kommt fortan morgens nicht mehr aus dem Bett, die Klamotten im Schrank stinken nach Giftgrube, ihre dunkelroten Haare fallen aus. Die Augen schmerzen, brennen, „als würde jemand von hinten ein Nagelkissen in den Augapfel stechen“. Sie geht zur Ärztin. Der Haarausfall sei ein Anzeichen für eine Vergiftung, bekommt sie dort zu hören. „Aber wo soll ich mich bitte schön vergiftet haben?“ Sie raucht E-Zigarette, ja, „aber nicht so schlimm, dass ich mir Schwermetalle ins Blut gerammelt habe“.
Ein tüchtiges Erdbeben
Das von ihr selbst bezahlte toxikologische Gutachten ergibt, ihr Selenhaushalt sei zu niedrig. Als möglichen Grund nennt das Schriftstück, das sie vorzeigt, die Aufnahme von Quecksilber, Arsen und Thallium. „Bestandteil meiner Küche ist so was nicht“, sagt sie, „des Mülls da drüben aber schon.“ Das LAGB bestreitet, dass die Menschen in Angersdorf vergiftet werden. Es beruft sich auf eine Analyse der Umwelttoxikologin Heidi Foth, in der „keine Zusammenhänge zwischen den geruchsaktiven Stoffen und toxikologischen Endpunkten eines Gesundheitsschadens“ festgestellt werden. Obereigner beklagt, das Gutachten beziehe sich allein auf Datenmaterial, das von der GTS erhoben wurde. Auch der Hinweis des LAGB, die von ihm als geruchsauslösend identifizierten Abfälle würden mittlerweile nicht mehr verfüllt, verfängt bei ihr nicht. Es stinkt ja immer noch!
Einer von Obereigners Mitstreitern in der Bürgerinitiative ist Eberhard Rothe. Er war früher selbst im Bergbau tätig. Vom Dachgeschoss seines Hauses blickt man auf das Fördergerüst am Schachtausgang. An das Erdbeben damals erinnert er sich gut, „da hat’s tüchtig gewackelt“. Schon deshalb hat hier keiner etwas gegen den Versatzbergbau zur Sicherung der Grube. Aber muss sie ausgerechnet durch Industrieabfälle stabilisiert werden? In der Nähe seines Hauses gibt es eine Salzhalde, aufgehäufte Rückstände aus Zeiten der Kaliproduktion. Deren Material könne problemlos zur Sicherung der Grube verwendet werden, meint Rothe.
Politische Unterstützung für diesen Vorschlag kommt nicht einmal von den Grünen. „Ob das problemlos geht, da bin ich mir nicht sicher“, sagt Wolfgang Aldag, umweltpolitischer Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion, „das wäre auf jeden Fall teuer.“ Der Wissenschaftler Braungart hingegen glaubt, dadurch könnten sogar Erdbeben eher verhindert werden, weil das Salz „eine ganz andere Dichte“ als der verfüllte Abfall aufweise.
Die Bürgerinitiative lässt nicht locker, sie trägt ihren Protest etwa nach Magdeburg, vor den Landtag – mit Schildern, auf denen Sprüche wie „Frische Luft statt Giftmüllduft“ stehen. Der Erste, der aus dem Landtag zu ihnen eilt, ist der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Robert Farle. Er sagt: „Es kann doch nicht sein, dass eine einzige Firma eine ganze Umgebung mit Gift versorgt!“ Mit progressiver Umweltpolitik hat Farle sonst nicht viel am Hut, redet gern vom „CO₂-Schwindel“.
Den meisten der Protestierenden ist sein Parteibuch egal. Klar, das sei ein „zweiseitiges Schwert“, meint einer, aber am Ende ginge es um die „Interessen der Bürger“. Sie kennen keine Parteien mehr, sie kennen nur noch Giftmüllgestank. Die AfD weiß das zu nutzen.
Später steigt Sachsen-Anhalts SPD-Landeswirtschaftsminister Armin Willingmann aus seiner Limousine. Er war schon öfters inkognito in Teutschenthal, um sich ein Bild zu machen, Carola Obereigner rechnet ihm das hoch an. Doch das Geschäftsmodell der GTS stellt der Minister nicht grundsätzlich in Frage. Es sei es eine „notwendige Sicherheitsmaßnahme“ für das ehemalige Bergwerk, die Verfüllung ungiftiger Stoffe eine rein „theoretische“ Lösung. Damit die Menschen unter der „Zivilisationsfolge“ Giftmüll nicht mehr leiden, sei der Bau eines Kamins geplant, der die Abwetter in großer Höhe herauspustet.
Eine „weitere Veralberung“, findet Carola Obereigner. Es bräuchte eine Filteranlage, sonst lande weiterhin alles in der Biosphäre. Dann halt nur weiter oben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.