Manchmal lohnt es sich, Briefwechsel vergangener Tage zu lesen. Nach der Bundestagswahl 1965, die bekanntlich mit der – wenn auch kurzweiligen – Fortsetzung der Regierung von CDU/ CSU und FDP ausging, schrieb Herbert Marcuse an Theodor W. Adorno: „Ich hätte bestimmt nicht SPD gewählt. Die Niedertracht dieser Partei macht sie auch zum <geringeren Übel> untauglich. Sie wagt es, noch den Namen zu führen, den sie einmal hatte, als Karl und Rosa ihr angehörten.“ Heute ist man da bescheidener. Den Linksliberalen wäre es ja schon recht, würden sich die Sozialdemokraten auf Figuren wie Willy Brandt besinnen, der, obwohl das Kapital von Karl Marx bei seiner Flucht aus Deutschland 1933 unter seinem Arm klemmte, dadurch nie zu einem genuinen Marxisten wurde. Karl und Rosa, das ist lange her. Bei seiner berühmten Regierungserklärung 1969 sagte Brandt: „Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten.“ Keinem Sozialdemokraten, der noch eine politische Karriere anstrebt, würden heutzutage diese Worte über die Lippen kommen. Werden sich die Leute ihrer sozialen Existenz bewusst, geht ihre Stimme nicht an die SPD. Die Genossen wissen das.
In der SPD setzen sich zurzeit die Konservativen durch
In der ältesten Partei Deutschlands sind es – wie gewohnt – die konservativen Kräfte, die sich zurzeit durchsetzen. Und das, obwohl man versprochen hatte, die SPD würde sich „grundsätzlich neu aufstellen“, wie es der Parteivorsitzende Martin Schulz formulierte. Nachdem Ulla Schmidt, selbst seit 27 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages, gestern ihre Kandidatur zurückgezogen hatte, ist nun Thomas Oppermann zum Bundestagsvizepräsidenten gewählt worden. Oppermann war bereits 15 Jahre Mitglied des niedersächsischen Landtages und ist seit 12 Jahren Bundestagsabgeordneter. Eine neues Gesicht also. Die SPD ist ein Biedermeierzimmer, jeder Politiker eine Antiquität, eine Renovierung das Ende der Stilechtheit. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel: Lars Klingbeil, mit 39 Jahren ein eher jüngerer Politiker, soll neuer SPD-Generalsekretär werden. Damit steht der Niedersachse vielleicht für einen, mehr oder weniger, "echten Generationswechsel", aber auf keinen Fall für die erhoffte politische Wende. Klingbeil ist, ähnlich wie Schmidt und Oppermann, Mitglied des Seeheimer Kreises, dessen „Maßstab für politisches Handeln stets die Realität“ sei, wie es auf der Internetseite des rechten Parteiflügels heißt. Die Realität sieht aber so aus: Aus einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW), die Mitte des Jahres erschienen ist, geht hervor, dass die Nichtwähler im Schnitt über das niedrigste Einkommen verfügen. „Diese Gruppe hat auch am wenigsten am Einkommenswachstum der letzten 15 Jahre partizipiert“, heißt es weiter in der Studie. Bei der letzten Bundestagswahl haben diese Menschen vor allem die AfD gewählt. Das hätte man durch Angebote an die Enttäuschten verhindern können.
Die Seeheimer stehen nicht für Idealismus
Aber ob die Genossen die dafür notwendige Veränderung überhaupt wollen, ist fraglich. Ihr Impetus könnte die Verbesserung der Lage der Schwächeren sein. Sie könnten sich glaubhaft für Verteilungsgerechtigkeit und eine solidarische Gesellschaft einsetzen. Stattdessen argumentierte Oppermann, jetzt Protagonist der angeblichen Neuaufstellung, während des Wahlkampfes fröhlich gegen die Vermögensteuer, während sein Kanzlerkandidat von Gerechtigkeit träumte. Die Spaltung der SPD in Pragmatismus und Idealismus hat der Partei immer geschadet. „Nur wenn der Pragmatismus der Partei auf einer gesellschaftlichen Vision basierte, hatte sie überhaupt eine wirkliche Chance“, schrieb Albrecht von Lucke schon vor einigen Jahren. Das gilt auch heute noch. Aber wo sind die Visionen? Dafür bräuchte es Mut und echte Überzeugung. Wer aber – im weberschen Sinn – Politik lediglich als Beruf und nicht als Berufung betrachtet, wird solche Vorstöße nicht wagen. Und die Seeheimer stehen nicht für Idealismus, sondern für Pragmatismus. Konservative, pragmatische Parteien gibt es aber schon zur Genüge im deutschen Parteiensystem und es wäre die Aufgabe der SPD, eine Alternative zu diesen Parteien zu bilden. Im Moment sieht es aber nicht danach aus, als seien sie sich dieser Aufgabe bewusst. Das ist ein gefährlicher Weg. Die AfD steht bereit, diese Wählerschaft einzusammeln.
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