Ästhetischer Super-GAU

Hamburg zu Fuß Seit Doris Brandt einen Kinderwagen durch Hamburg schiebt, hat sie ganz neue Perspektiven auf die Stadt. Diesmal besucht sie den Flagship-Store der Modemarke Abercrombie

Dieser Geruch reizt die Nase. Ich muss niesen. Ununterbrochen. Die Dunkelheit wird von der wummernden Akustik noch verstärkt und verursacht ein beklemmendes Gefühl. Schemenhaft erscheinen Umrisse menschlicher Körper, die herumirren und nach etwas suchen. Genau wie ich. Ich suche auch, ohne zu wissen wonach. Da! In einem dämmrigen Lichtkegel eine Frau um die zwanzig im kurzen weißen Sommerkleid, die apathisch vor sich hin tanzt und mich auf amerikanischem Englisch fragt, ob sie mir helfen kann. So ähnlich muss sich ein Atombunker irgendwo in der amerikanischen Provinz anfühlen. Herumirrende Menschen, die nicht wissen wohin und warum. Nur benötige ich mich weder Schutz vor nuklearen elektromagnetischen Impulsen noch befinde ich mich im Bundesstaat Missouri. Und draußen liegen auch keine toten Kühe herum. Ich shoppe. Nein, ich shoppe nicht, ich bin Teil eines Shopping-Events. Ein Shopping-Event im neuen Flagship-Store des amerikanischen Modelabels Abercrombie and Fitch, der just im alten Gebäude der Alten Post in der Hamburger City eröffnet hat.

Die Alte Post wurde 1874 nach Vorbild der Palazzo-Architektur italienischer Renaissance fertiggestellt. Im Jahr 2008 wurde die Alte Post in die so beliebten Bauplanen gehüllt, entkernt, saniert, gesandstrahlt und für 110 Millionen Euro an einen britischen Immobilien Investor verkauft. Seit kurzem hat sie zwei Stockwerke mehr und beherbergt junggebliebene Zeitgeist-Freizeitkleidung im saftigen Preisniveau.

Schon vor der Eröffnung zählten lokale Radiosender den Countdown bis zur Eröffnung des „Kultladens“ herunter. An einem milden Tag Ende April war es soweit. 50 männliche Models lüfteten ihre Jäckchen und grinsten keck jene Teenager an, die vom Kreischen schon längst ihre Stimme verloren haben. Auf der Straße eine 100 Meter lange Schlange aus Menschen, die nur darauf warteten, einen Fuß in die verdunkelte Hipness setzten zu dürfen. Straßen wurden gesperrt als insgesamt 300 frisch sandgestrahlte Bauchmuskel die Ladenfront in Besitz nahmen. Der Laden eröffnete nicht einfach, er inszenierte, und alle waren dabei.

Heute, ein paar Tage später werde ich an der Tür von zwei jungen Männern in Bermudas begrüßt, die bestimmt schon einmal als Tennislehrer in einem Rosamunde-Pilcher-Film mitgespielt haben. "Hey there, how are you doing?“ Ich bestehe trotz meines Alters und meines verwirrten Blickes die Einlasskontrolle und werde gleich hinter der Tür mit einem Mann konfrontiert, der einfach nur dasteht. Er macht rein gar nichts. Er steht einfach nur da und zeigt seine Bauchmuskulatur. Ich muss an die amerikanischen Highways denken. Auf Highway-Baustellen stehen auch Leute einfach nur da, aber die halten zumindest ein Baustellen-Schild in der Hand, das auf die Baustelle hinweist. Ein „Vorsicht Stufe“ oder „Vorsicht Dunkel“ würde diesem Herren gut stehen. Meine Frage, ob er sich nicht langweilt, wird mit zwei weißen Blendax-Gebiss-Reihen weggegrinst.

Gewinner mit Seitenscheitel

Nun stehe ich im Dunkeln und wüsste gern, was ich shoppen sollte, wo ich doch nichts sehe. Das also ist das einzigartige Konzept: Schwarzer Boden, schwarze Wände, Notbeleuchtung, Verkäufer, die in dieser Welt „Models“ heißen, in kurzen Röcken tanzen und ausschließlich amerikanisches Englisch sprechen. Und dann dieses permanente Herausblasen des hauseigenen Männerparfüms „Fierce“. Das visuelle Shoppingerlebnis, obgleich man bei permanenter Dunkelheit nur sehr begrenzt von einem visuellen Erlebnis sprechen kann, beschäftigt alle Sinne. Ob die Sinne das nun wollen oder nicht. Schon jetzt weiß ich, dass ich die nächsten Stunden mit der Duftnote „Fierce“ in den Schleimhäuten leben muss. In kleinen schemenhaft beleuchteten Wand-Einlässen sehe ich, gestapelte Piqué-Hemden, die ich nicht kaufen möchte. Schon allein darum nicht, weil ich mich nicht traue, ein Hemd aus dem akkuraten, ästhetisch korrekten Stapel zu ziehen. Der gesamte Stapel würde kippen, und aus der Dunkelheit würde mich eine unsichtbare Hand eliminieren, indem sie eine Giftspritze setzt. Ganz bestimmt.

Zudem gehöre ich nicht zur Zielgruppe. Die Modemarke möchte College-Kids ansprechen. Nicht die Hip-Hop Kids, die aufs College dürfen, weil sie gut Basketball spielen können. Eher jener Nachwuchs, der spritzig frech schon mit 16 zu den Gewinnern mit Seitenscheitel gehört und auf dem Familien-Landsitz in Neu-England eine schnittige Figur in lässigen Freizeit-Jackets macht. Da passt die „A+F Privileged Prep-Collection“ der Produktreihe „Elements for Ivy“ in Anlehnung an die Ivy League der amerikanischen Elite-Universitäten Harvard und Yale, wie Waschbrett auf Bauch. Privilegiert durch Bauchmuskulatur und weniger durch Unterarm-Prothese. Diese wurde von einer ehemaligen Abercrombie and Fitsch-Verkäuferin in England getragen. Unverhüllt. „Abgeordnete“ des „Visual Teams“, einer Art Abteilung für ästhetische Angelegenheiten bei Abercrombie and Fitch, versetzten die Verkäuferin in das Lager.

Benommen von so viel Ästhetik blendet mich das gleißende Tageslicht auf der Straße. Der Leierkasten-Mann an der Ecke spielt Shanties. Ich kann mir nicht helfen. Er riecht nach „Fierce“.

Doris Brandt, Freitag-Autorin und Community-Mitglied, spaziert alle zwei Wochen am Dienstag mit ihrer Tochter durch Hamburg. Und zeichnet so ihr eigenes Stadtbild

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