„In der Palette treffen negative Jugendliche und solche die etwas erleben wollen.“
Bericht eines Hamburger Jugendfürsorgers in den späten 1950ern
„Wir trafen uns im La Palette, einem Restaurant am Montparnasse, wo er (Jean-Paul Sartre) Stammgast war und wo man miteinander reden konnte, ohne von den Nachbartischen belauscht zu werden.“
Aus den Erinnerungen von Sartre-Freund Claude Lanzmann
Zwei Zitate, zwei Gastronomien, zwei Städte. Die eine verrucht verrufene Hamburger Kellerkneipe, die andere ungestörter Austauschort philosophischer Popstars der 1950er. Während das La Palette, neben dem Café de Fleur, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir im fernen Paris als Denkfabrik und Wohnzimmer diente, diente die Hamburger Palette vor allen Dingen Jugend- und Ordnungsamt als Dorn im Auge. Und dennoch verbindet die beiden Kneipen mehr als der Name.
Das deutsche Wirtschaftswunder ließ mit Eierlikör und Erdbeerbowle die dunklen Jahre vergessen. Man war wieder wer und arbeitete für das Häuschen im Grünen, den VW-Käfer oder die Reise nach Italien. Doch nicht überall. In der Hamburger ABC-Straße schon gar nicht. Gerade hier, wo heute schwedische Oberhemden mit frech drapierten Satin-Krawatten in bodentiefen Schaufensterauslagen auf kaufkräftige Kundschaft warten und wo Limousinen geräuschlos vor dem gläsernen Entrée des Marriott-Hotels vor- und zurück gleiten, war Ende der 1950er eine Kaschemme Abtrünniger angesiedelt, die es zur Romanvorlage schaffte: die Palette.
Nabel zur Welt und Babel Hamburgs
Für die einen Offenbarung, der Nabel zur Welt des Existenzialismus, für die anderen das Babel Hamburgs. Sie verschluckte Gammler, Alkoholiker, Aussteiger, Träumer, Traumatisierte, Gestrandete, Rebellen, Illusionierte sowie Desillusionierte der kriegszerstörten Neustadt und bot dieser gesellschaftlichen Mische zu Hause, Raum und Hinterzimmer zum pennen. Hier konnten sich Jugendgruppen wie Beatnicks und Exis auflehnen gegen Erziehungsberechtigte, Alt-Nazis oder beides. Gegen den Persil-weißen Mantel des Vergessens und den sonntäglichen Sauerbraten.
Einer der Palettianer, wie jene Menschen bald genannt wurden, die mit der Palette zu einer eigenen Welt verwuchsen, war Joachmim Stoll. Er beschreibt heute einen Ort, der aus der gesellschaftlichen Norm herausfiel. „Ich komme ursprünglich aus der Bar Tom Dooley. Als die ausbrannte, waren wir wohnungslos.“ Die neue Bleibe war die 20 Meter entfernte Palette, die damals noch eine gut bürgerliche Kneipe war. „Wir haben uns verbunden mit denen aus der Palette, was gut funktionierte, da keiner eine Aufsicht hatte. Wir haben alles untereinander geregelt. Wir haben uns mit Wohnungen geholfen, viele hatten ja keine, waren abgehauen.“
Michael Naura, damals Jazz-Musiker im Club Barett an den Colonnaden, erinnert sich im Buch „Palette Revisited“: „Als ich das erste Mal reinkam, dachte ich: Gott, was ist das für eine verdammte Höhle. Sie war schummrig und ein bisschen schmutzig. Da saßen Nachteulen herum und kamen nicht zur Ruhe.“ Die Kultur des Nichtschlafens hatte hier Tradition.
Zwei Quadratkilometer mitten in Hamburg für ein kleines Biotop, zu dem neben der Palette die benachbarte Kaffeeklappe ebenso zählte wie der linke Konkret-Verlag und auch der nicht ganz so linke Axel-Springer-Verlag, „deren Leute aber eher nur ein Topf für die Nacht klarmachen wollten“, so Stoll. Im Dunstkreis der Palette fand auch Ulrike Meinhof, damals noch Konkret-Kolumnistin und noch nicht im Untergrund, Stoff für ihre spätere Dokumentation über Gewalt an Heimkindern.
Meinhofs Monologe
Joachim Stoll war einer ihrer Gesprächspartner. „Ich kannte sie noch unter Ulrike Röhl. Sie hielt endlose Monologe.“ Stoll war Heimkind, Meinhofs Monologe langweilten ihn eher. Für ihn ist sie eine Randfigur der damaligen Zeit. Stoll verliert nur ein paar allgemeine Sätze über seine eigene Heimzeit, „die von sadistischen Alt-Nazis und Duckmäusern dominiert wurde“. Über Details spricht er bis heute nicht. Seit er mit 16 aus dem Heim abgehauen war, lebte Stoll bis zu seiner Volljährigkeit mit damals 21 Jahren im Untergrund, in permanenter Hut vor dem Jugendamt. Eine Freundin von Ulrike Meinhof, die heute vor allen Dingen als Gerichtsreporterin und hoch-engagierte Pazifistin bekannt ist, ist Peggy Parnass. „Ihr Engagement für Frieden und gegen das Alt-Nazi-Geklüngel imponiert mir bis heute.“ In der Paletten-Gemeinschaft fand er seine Familie. Wenn mal wieder der graue VW-Bus bremste und die Männer vom Jugendamt in ihren Kleppermänteln, wie sie schon die Gestapo trug, herauspreschten, um die Minderjährigen wieder in Gewahrsam zu nehmen, suchte Stoll Schutz unter dem Flipperautomaten in der Palette-Süd.
Die Palette teilte sich geografisch auf: Palette Nord, Mitte und Süd. Die Zeitschrift Konkret schreibt in den 1960ern: „Die Palette besteht aus drei Räumen. Sie erinnern an die verschiedenen Kammern einer Sickergrube. Im ersten, Palette Nord, dominieren Theke und Musikbox. Das Bouquet der Paletteluft ist aus Roth Händle, Exportbier und Magensäure komponiert.“ In der Palette-Nord verkehrten Teenager, die ihren Erziehungsberechtigten etwas von Ganztagsunterricht oder Geigenstunden erzählten. Im Geigenkasten ließen sich prima Klamotten und Verpflegung für den Paletten-Nachmittag verstauen. Abends drückten sich dann Springer- nebst Konkret-Journalisten in den Sitznischen. Im zweiten Raum, Palette Mitte, soff das ältere Stammpublikum. Von hieraus war die dunkle Höhle der Abtrünnigen, Palette –Süd, auch nicht mehr weit.
Sartre zwischen Unterhosen
Ob Sartre und de Beauvoir im Pariser Restaurant La Palette von der Hamburger Namensgenossin wussten, ist nicht bekannt. Dennoch waren sie in der Hamburger Palette omnipräsent. Nicht nur weil Ulrike Meinhof Simone De Beauvoir zu Gastbeiträgen im Konkret Magazin bewegte. Sartre, Camus, de Beauvoir aber auch die Beat-Poeten Kerouac, Ginsberg und Burroughs wurden zu Sprachrohr und Versteher der Hamburger Unangepassten. Ihre Werke waren für viele der eigene Lebensleitfaden. „Man sitzt zusammen, redet, redet“, so der Zeitzeuge Henry Weder im Buch „Palette Revisited“. „Der eine hat sich grad ein Buch geliehen, kramt es aus seinem Gammlerbeutel hervor zwischen Unterhosen, Kulturbeutel und wedelt damit herum beim Reden. Camus, der Fremde, Sartre, der Ekel.“
Paris wurde in der Hamburger Neustadt zu Sehnsuchtsort und Pflichtprogramm. Dekaden vor dem weltweiten Web vernetzten sich die Hamburger Palettianer mit ihren französischen Pendants, den Freidenkern, Gammlern und Anders-Sein-Wollenden von der Seine. Der eine kannte jemanden, der jemanden kannte, der wiederum diesen Patron im Pariser Quartier St. Germain de Prés kannte, bei dem man pennen konnte. Es wurden Adressen und Telefonnummern getauscht. Dort wo Philosophen zu Popstars der vergessenen Generation wurden, die das Denken auf das eigene konkrete Leben zurückführten und nichts auf Staat und Institution gaben.
Die Existenzialisten Sartre, de Beauvoir und Camus schlussfolgerten, dass jeder Mensch vollkommen frei sei, sein eigenes Schicksal zu formen und somit nur er selbst für sein Leben verantwortlich ist. Auch sie hatten Räume, die aus der gesellschaftlichen Norm fielen, in ihrem Fall das Café de Flore, Les Deux Magots oder eben das La Palette, in dem die Intellektuellen täglich tranken, rauchten, publizierten, philosophierten und Anhänger jeglicher Pariser Couleur, heute würde man von Groupies sprechen, um sich scharrten.
In der norddeutschen Wirtschaftswunderwelt machte bald der Begriff „Exi“ die Runde. Ein Begriff, den treusorgende Menschen für dieses sinnierende, arbeitsscheue Sammelsurium benutzten, das sie nicht greifen konnten. Für die zeitgleich aufkeimende Rocker-Bewegung waren die „Exis“ wiederum all diejenigen, die nicht dem Rockermilleu angehörten. Laut Stoll mochten Exis Peter Kraus, Rocker mochten Ted Herold. Rocker verkehrten im Starclub und Exis im Topten. Exis trugen Anzugshosen, Cord-Jackets, Faltenrock und natürlich den schwarzen Rollkragenpullover. Weibliche Stil-Ikone war Juliette Greco. Neutrale Orte, an denen beide Gruppen verkehrten, waren das Grünspan. Das Motto in der Palette war „Leben und leben lassen“. Hin und wieder wollten ortsunkundige Rocker den Exi-Laden aufmischen. Die hatten dann aber die Rechnung ohne den "Roten Dieter", selbst als Rocker eher körperbetont unterwegs, und seiner Kopfnussgang gemacht.
Der vom Existenzialisten Sartre definierte „L‘esprit serieux“ beschrieb auch das allgemeine gesellschaftliche Verhalten der Nachkriegszeit. Nicht die Freiheit war oberste Lebensmaxime, sondern das vorgegebene Leistungsgefüge und die in diesem Gefüge eigene gespielte Rolle. Sartre beschreibt den „L‘esprit serieux“ gerne an der Rolle des Kellners. Das kellnerhafte Verhalten sei eine gesellschaftlich diktierte Rolle, die der Ausübende nicht aus freien Stücken spielte.
In der „Reklame der 1950er“, ganz gleich ob Pudding, Waschmittel oder Kaffee, ist die Hausfrau mit gestärktem Petticoat nicht wegzudenken. Über verklumpten Pudding und dünnen Kaffee schienen die Sorgen nicht hinauszugehen. Tiefschwarze Tragödien waren auf welcher Seite auch immer überlebt, das Postkarten-Idyll der 1950er breitete zu Operetten-Weisen seine Pastellfarbige Kulisse aus. Jetzt spielte man eben seine Rolle in einer Postkarten-Idyll-Gesellschaft. So sah es auch Sartre. Die Gesellschaft diktiert Rollen als Mutter, Hausfrau, Kellner oder Bettler. Und genau dieser einfachen Hinnahme einer diktierten Rolle galt es entgegen zu wirken.
Augen wie Höhleneingänge
Auch die Hamburger Palettianer spielen Rollen, nur passten diese so gar nicht ins Leistungsgefüge der späten 1950er. Die Gesellschaft diktierte nicht. Der schwarzlederne Sheriff und seine Freundin, der Deputy, wollten Sheriff und Deputy sein. Die vom Existentialismus beeinflussten Beatniks, die Cool Jazz-hörenden Leser der Beatpoeten? Wenn Beatnik-Frauen sich Gesichter mit weißem Make-Up und Penaten-Creme quasi farblos machten oder aus ihren übernächtigten Augen mit Kajal und Lidstrich Höhleneingänge schufen, dann wurde es weder von Sissi noch vom Weißen Rössl vorgegeben.
Ein paar Palettianer imponierten Stoll besonders. So der spätere Filmemacher und 2014 verstorbene Harun Farocki, den sie in der Palette immer den hinkenden Inder genannt haben. Farocki ging auf das Gymnasium und kam nach Schulschluss mit Schulmappe in die Palette. Er war ein ruhiger, angenehmer Mensch, der gerne beobachte. Wie Hubert Fichte. Der Schriftsteller des Romans „Die Palette“ lag damals mit seinen über 30 Jahren oberhalb des Altersdurchschnitts des gemeinen Palette-Angehörigen.
Paris wurde der Hamburger Palette zum Verhängnis. Eine Freundin von Stoll haute an die Seine ab. Ihr Vater, einflussreicher Arzt aus Eppendorf, setzte alles in Bewegung, das Kapitel Palette ein für alle Mal zu schließen. „Auch die Redakteure des Springer-Verlags“, so Stoll, „sagten bereitwillig über die Palette aus“. Die Palette schloss nach einer Razzia im November 1964.
Stoll, mittlerweile volljährig, ging seinen Weg. Er war als Unternehmer und als Bademeister tätig. Heute ist er Mitte Siebzig. Einige sind auf die schiefe Bahn geraten, andere berühmt. Eine Tresenkraft hat in den Nuller-Jahren Drehbücher für Daily-Soaps geschrieben. Stoll verwaltet heute den Adress-Karteikasten der Palettianer. „Weil ich Antialkoholiker bin und wohl am längsten lebe“. Alle zwei, drei Jahre findet dann das Treffen der Palette-Überlebenden im Karolinenviertel statt, zu dem Peggy Parnass auch gerne mal eine große Torte springen lässt.
Wie ein U-Boot taucht die Palette hin und wieder in der Hamburger Kunst- und Kulturszene auf. Neben dem furios kantigen Roman von Hubert Fichte, der bis heute zur absichtlich unabsichtlich drapierten „Coffee-Table-Literatur“ linker Kulturschaffender gehört, brachte Theater-Regisseur Musiker und Gastronom Schorsch Kamerun 2000 das Stück „Palette“ auf die Bühne. Denn es gibt Parallelen zwischen der Palette der 1960er und dem von Kamerun und Schamoni gegründeten Pudel-Club der 1990er und Nullerjahre: ein schiefer, schmuddeliger Ort einer eigenwilligen, wenig kommerziellen Subkultur. 2010 folgten mit dem Buch und Film „Palette Revisited“ authentische Zeitzeugenberichte. Der Nachbau der Palette war später ein Monat lang Kunstprojekt im Gängeviertel, ehe im Frühjahr 2018 Kultursenator Carsten Brosda eine Tafel an der ABC-Straße 52 enthüllte. Sie gedenkt der Palette, der Szene und all den Menschen, die in diesem subkulturellen Gastspiel eine Rolle spielten bzw. in deren Leben die Palette eine Rolle spielte oder dies noch immer tut.
Und das La Palette?
Jeder Pariser Reiseführer, der etwas auf sich hält, führt natürlich das Restaurant mit der berühmten Vergangenheit. In den einschlägigen Gastro-Bewertungsportalen beschweren sich die Besucher vor allen Dingen über die Servicekräfte: „Der Service ist wirklich schlecht, die Angestellten sind unfreundlich. Zwei Kellner sahen mich und lachten. Es gibt wirklich bessere Ausflugsziele in Paris, mit einem besseren Preis-Leistungsverhältnis.“ Vielleicht haben die Kellner aber auch einfach Sartre gelesen und die Rolle des Kellners über.
Info
Palette Revisited – Eine Kneipe und ein Roman, Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen, Originalveröffentlichung, 224 Seiten, 64 S/W-Fotos, ISBN 978-3-89401-467-4, Erschienen 2005
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