Ist Schulz noch zu retten?

Bundestagswahl Florian Guthmann benannte am 10.5.2017 in Spiegel Online vier Thesen für den Abwärtstrend der SPD - und damit auch des Kanzlerkandidaten Schulz. Ich widerspreche!

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1. These. Die SPD hat sich zu sehr auf den Schulz-Hype verlassen.

Begeisterung ist ja oft verknüpft mit Hoffnung; und das ist durchaus positiv für die SPD, weil Energie und Engagement daraus resultieren, die vor allem in dem starken Mitgliederzuwachs (16 000!) ihren sichtbaren Ausdruck fanden. Das ist gut so, aber diese Neueingetretenen dürfen nicht enttäuscht werden. Das ist nur dann gegeben, wenn ihre Erneuerungserwartungen, sowohl in der Partei als auch auf den Ebenen der Länder- und der Bundespolitik, durch vermeidbare Fehler, nicht enttäuscht werden. Was aber leider der Fall war - vor allem in Schleswig-Holstein, aber auch auf Bundesebene, wo (bisher) kein überzeugend begründeter Alternativ-Plan zur neoliberalen derzeitigen Bundespolitik formuliert wurde. So verliert der Hype an Fahrt!

Dass es keine "Merkel-Müdigkeit im Lande gibt", so der Spiegel-Autor, bezweifle ich, und dass die Bürger "beinahe jeden Abend in der Tagesschau sehen, welche Krisen die Merkel wieder managt", ebenfalls. Was sind denn die tollen Leistungen, die Frau Merkel vollbringt? Die Antwort bleibt uns der Autor schuldig. Und: diese vielen "Leistungsbestätigungen" in der Tagesschau (kürzlich sogar bei der Analyse der Wahlergebnisse in S.H.) sind eher ein Indiz dafür, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen (z.B. die Tagesschau) unzulässige Werbung für Frau Merkel macht - und damit natürlich auch für die CDU! Die Politiker, die gegenwärtig wirklich etwas Positives leisten sind Sigmar Gabriel und Walter Steinmeier, anlässlich ihrer Israel-Besuche: Chapeau!

2. Die SPD hat zu wenig Inhalte geboten

"Schulz ‘Kampagne steht unter dem Motto "Zeit für mehr Gerechtigkeit". Dieses Motto in Verbindung mit seiner Aufsteiger-Biografie erschien der SPD als geeigneter Gegenentwurf zu Merkel. Dazu passend stellte Schulz...einige Arbeitsmarkt-Reformen vor, die einst Rot-Grün unter dem SPD-Kanzler Schröder umgesetzt hatte. Und dann? Passierte inhaltlich bis zum heutigen Tag kaum noch etwas."

Ja, es braucht Konkretisierungen, die man als sozial-demokratische Zielsetzungen erkennen kann (spätestens beim Programmparteitag Ende Juni); z.B.: a) Vollbeschäftigung und Arbeit, von der man leben kann; b). Intakte Umwelt mit Nachhaltigkeits-Charakter; c) stabile Staatstätigkeit; d) außenwirtschaftliches Gleichgewicht; e) Preisstabilität; f) Stabile Finanzmärkte; g) Erhöhung der Lebensqualität aller BürgerInnen; h) fair verteilter materieller Wohlstand.

Und: Kritik an der unsozialen und nicht nachhaltigen, neoliberalen Politik ala Merkel und Schäuble muss jetzt schon für die WählerInnen erfahrbar werden, indem sich die SPD gegen weitere Privatisierungen (aktuell bezüglich der BAB), für die Wiedereinführung der Erbschaftssteuer (nach den Vorgaben des BuVg), für die Anhebung des Höchst-Einkommenssteuersatzes (nach dem Vorbild des ehemaligen BuKa Kohl) die Überarbeitung von CETA und die Beendigung des mörderischen (!) Austeritätsdiktats in der Eurozone einsetzt.

3. Gerechtigkeit zieht weniger als erhofft

Dieser These widerspreche ich vehement.

a) Es sind schockierende Zahlen, die kürzlich vorgelegt wurden - in der europäischen Jugendstudie "Generation what"?. Danach haben 92% der jungen Menschen ( 18 - 34 jährige aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Polen, Spanien und Großbritannien) kein Vertrauen in die Politik. 90 Prozent glauben, dass die sozialen Ungleichheiten in ihren Ländern immer größer werden und dass das „Finanzsystem“ die Welt bestimmt.

b) Obwohl der Armutsbericht (von Andrea Nahles) von CDU-Seite entschärft wurde – dies ist ein Skandal und auch ein Indiz für die Unmöglichkeit einer großen Koalition - wurde unmissverständlich deutlich, wenn man die unzensierte(!) Studie zugrunde legt: auch in Deutschland gibt es große Armut, auch in Deutschland sind Einkommen und Vermögen ungerecht verteilt, auch in Deutschland haben die Reichen weit mehr Einfluss auf die Politik, als die ärmeren Schichten!

Also, das Gegenteil dessen, was uns der Spiegel-Autor suggerieren will, ist wahr – und für den Wahlkampf der SPD könnte durchaus das Thema „soziale Spaltung“, ergänzt mit konkreten Vorschlägen zum Abbau dieser Spaltung, das Schlüsselthema bleiben.

Ich weiß nicht, ob „In der SPD seit Monaten das Buch des Soziologen Oliver Nachtwey mit dem Titel "Die Abstiegsgesellschaft" herumgereicht“ wird, wie der Autor schreibt. Sinnvoll wäre es sicher, diese Lektüre zu ergänzen, z.B. durch den unzensierten „Armutsbericht“ und ein wissenschaftlich fundiertes Handbuch mit dem Titel „Wohlstand der Zukunft – Investitionen für eine sozial-ökologische Wende (Hrg. AK und ÖGB Arbeit und Wirtschaft).

Als Beweis für seine These behauptet der Autor: „Das Ergebnis der Landtagswahl in Schleswig-Holstein, in dem die SPD voll auf Gerechtigkeit gesetzt hatte, spricht dagegen“.

Auch hier liegt er falsch; denn Thorsten Albig hat sich total verzockt:

1. sein hübsch bebilderter Illustrierten-Beitrag über seine neue Freundin Bärbel Boy und seine gescheiterte Ehe, sicherlich gedacht als Anbiederung an den "Volksgeschmack", ging total daneben!

2. Sein Hinweis – 2015 – Frau Merkel sei eine gute Kanzlerin, die ihren Job „ganz ausgezeichnet“ mache, und daher bedürfe es keines eigenen SPD-Kanzlerkandidaten, ist sicherlich nicht bei den WählerInnen in Vergessenheit geraten.

Damit hat er sehr deutlich signalisiert, die neoliberale, unsoziale Politik sei „alternativlos“.

Ein Politiker, der unter dem Qualitätsetikett „sozial-demokratisch“ firmiert und das genaue Gegenteil für „ganz ausgezeichnet“ bewertet, wirkt unglaubwürdig und verliert an Zustimmung. Der Wähler/die Wählerin braucht Alternativen in der Sache – und dabei bevorzugt er das Original! Sein früherer Chef, Herr Steinbrück, ist, wie bekannt, genau an dieser Problematik gescheitert.

4. Rot-Rot-Grün schreckt ab

Zusammen mit der Union wäre soziale Gerechtigkeit, untermauert durch die oben schlaglichtartig skizzierte Politik, selbst mit Martin Schulz als Bundeskanzler, nicht zu verwirklichen.

Mit einer rot-rot-grünen Koalition und einer breiten außerparlamentarischen Bewegung wäre dies sicherlich eher machbar.

SPD, Bündnis 90/Die Grünen und LINKE verbindet das Bekenntnis zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die - auf alle geeigneten Versicherungszweige ausgedehnt - den Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament stellen könnte.

Der Widerstand dagegen ist deutlich spürbar - getragen von Lobbyisten, neoliberalen Ökonomen und anderen Bedenkenträgern (auch in den Medien), die diesen Politikwechsel nicht wollen, weil sie die Profiteure und Ideengeber der bisherigen Politik waren.

Es braucht also Mut, diese neue Politik zu vertreten – aber dazu gibt es nur die Alternative des "weiter so": dann landet die SPD mit ziemlicher Sicherheit wieder in der Groko als Juniorpartner, der ab und zu mal aufmucken aber nichts Grundsätziches ändern darf!

Und die Ampel ist auch keine Lösung, denn mit einer marktradikalen FDP, im Schlepptau der INSM („Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, mit Herrn Clement an der Spitze) und die Friedrich-Naumann-Stiftung als illegale Webetrommel, ist kein Sozialstaat zu machen.

Fazit:

Unabhänging vom Ausgang der Wahl in NRW wage ich zu behaupten, dass Martin Schulz durchaus eine Chance hat, wenn er konsequent und klar den Wählerinnen aufzeigt, dass er eine wirkliche Alternative zur derzeitigen Kanzlerin Merkel ist. Die Umfragewerte für RRG werden dann steigen, wenn dem Wähler/der Wählerin vermittelt wird, dass diese Koalition Gemeinsamkeiten hat, die eine gute Basis für eine sozial gerechte, umweltgerecht-nachhaltige und ökonomisch fundierte Politik sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Erich Becker

Buch- und Theater-Autor

Erich Becker

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