Das Thema Katalonien und andere Unabhängigkeitsbestrebungen (Baskenland, Galizien) sind von der Tagesordnung verschwunden. Eine fast allmächtige Zentralregierung bestimmt, wo es lang geht. Und der Widerspruch hält sich in engen Grenzen. Alle Regionen werden von Madrid aus regiert, alle regionalen Polizeikräfte und Gesundheitssysteme sind der Zentralregierung unterstellt.
Selbst der katalanische Präsident Quim Torra, der noch kurz zuvor „auf gleicher Augenhöhe“ mit Pedro Sánchez, Chef der Zentralregierung, über die Zukunft Kataloniens verhandelt hatte, fügt sich bei verhaltenem Protest. Das alles dank Artikel 116.2 der spanischen Verfassung, der das Ausrufen des „Alarmzustand“ durch die Regierung per Dekret erlaubt, wenn auch zunächst auf 15 Tage begrenzt. Wie konnte es derart schnell dazu kommen?
Leichenhalle Eispalast
Während am 3. März das erste Todesopfer durch das Coronavirus offiziell bestätigt wurde, sind es drei Wochen später mehr als 3.500 Tote, in einem Land mit 47 Millionen Einwohnern, mehr Tote als in China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern. Und zehn Tage nach Verhängung der Ausgangssperre nimmt die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Coronavirus noch immer zu, sodass die Krematorien in Madrid in ihrer Kapazität erschöpft sind und nehmen keine Einäscherungen mehr vornehmen. Die Leichen werden währenddessen im Madrider Eispalast gelagert, der eigentlich zum Schlittschuhlaufen gebaut ist. Ein apokalyptisches Szenario.
Die Spanier zerbrechen sich den Kopf darüber, wie das alles sein kann, ist doch die große Mehrheit davon überzeugt, dass ihr „universales“ Gesundheitssystem das beste der Welt ist. Das System hat in der Tat eine Besonderheit: Jeder, selbst wenn sich jemand wie viele Immigranten nicht legal im Lande aufhält, gibt es einen Zugang zur Gesundheitsversorgung.
Auch auf dem flachen Land bestehen flächendeckend Gesundheitszentren („Centros de Salud“), mehr oder weniger gut ausgestattet, die für die gesundheitliche Grundversorgung zuständig sind. Das Problem beginnt, wenn eine Überweisung zu Spezialisten oder in Krankenhäuser notwendig wird. Hier muss – wegen des Andrangs – oft bis zu einem Jahr auf einen Termin gewartet werden. Und diese Schlangen werden wegen der Mittelkürzungen über die Jahre immer länger. Denn das ganze System wird staatlich finanziert. Eine Pflichtversicherung über Krankenkassen gibt es nicht. Eine konkrete Folge als Beispiel: Die Ressourcen, über dieses System an einen Test für das Coronavirus zu kommen, sind knapp und in vielen Regionen, besonders in Madrid, so gut wie erschöpft. Allein dort gibt es bis jetzt 1.800 Tote.
Mangel an Gemeinsinn
Ein weiteres Problem ist die weitverbreitete „Kultur“ der „picardía“, was mit „Gerissenheit“ oder „Schelmerei“ übersetzt werden kann. Negativ ausgedrückt könnte auch einfach von einem Mangel an Gemeinsinn oder „bürgerlicher Verantwortung“ gesprochen werden. Das ist in einem Land, in dem statt eines „demokratischen Bewusstseins“ immer noch eine lange Tradition des Obrigkeitsdenkens bestimmend ist, nicht weiter verwunderlich.
Konkret im Fall des Coronavirus: Die ca. 140.000 Angehörigen der Guardia Civil und der Nationalpolizei sind neben den regionalen und lokalen Polizeikräften für die Kontrolle der Ausgangssperre zuständig und patrouillieren innerhalb und außerhalb der Städte und Ortschaften. Diese haben inzwischen wegen Verstößen gegen die Ausgangssperre ca. 100.000 Anzeigen erstattet und über 1.000 Festnahmen durchgeführt.
Aber die Phantasie der „pícaros“ ist unerschöpflich: Man geht, gedeckt durch die Ausnahmeregelungen, nicht einmal sondern fünf Mal am Tag auf die Straße, um jeweils eine Kleinigkeit im Supermarkt einzukaufen. Und auch mit dem Hund wird zigmal „Gassi“ gegangen. Oder: Kurz vor Inkrafttreten der Ausgangssperre sind noch tausende Bewohner Madrids in Autokarawanen oder Zügen zu ihren Apartments am Mittel meer geflüchtet und haben das Virus zu der dortigen Bevölkerung getragen.
Das heißt aber nicht, dass die „Nächstenliebe“ in diesem katholischen Land verschwunden wäre. So rekrutieren etwa gemeinnützige Organisationen weibliche Freiwillige, die dann in Handarbeit an einem Nachmittag 120 Schutzmasken nähen.
Auch der Aktivismus der Madrider Regierung angesichts der schwindelerregenden Entwicklung ist ungebrochen: Gerade hat sie bei der NATO untern anderem 1,5 Millionen Schutzmasken angefordert, obwohl diese über keinerlei derartige Bestände verfügt. Kurz und gut: Keiner weiß derzeit, wie das Land diesem Alptraum entrinnen kann.
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