Spaniens neue Normalität

Bedrohung Bei den wichtigen Wahlen in der Autonomen Region Madrid feiern die Rechten einen Durchmarsch. Podemos-Mitgründer Pablo Iglesias zieht sich aus der Politik zurück
Spaniens neue Normalität

Foto: Pierre-Philippe Marcou/AFP/Getty Images

Wenige Spanier erinnern sich an eine derartige Aufladung des öffentlichen Raums mit Hass und Aggressionen wie in den vergangenen Wochen, vor den vorgezogenen Wahlen in der Autonomen Region Madrid. Einige Kommentatoren vergleichen die Stimmung mit der Situation vor dem Militärputsch im Jahr 1936, der „Erhebung“ der „patriotischen Kräfte“ gegen die „bolschewistische“ Republik. Die Parolen ähneln sich in der Tat. Auf den Plakaten der Rechtspartei PP liest man „Freiheit oder Kommunismus“, und die Kandidaten der faschistischen Partei VOX erklären in ihren Hassreden Pablo Iglesias, Kandidat der linken Partei Podemos, geradezu zum „Volksfeind“, der umgehend aus der spanischen Politik und am besten aus dem Land überhaupt vertrieben werden muss.

Mit Erfolg: Am 22. April geht ein Brief mit zwei Patronen an ihn. Die begleitende Botschaft: „Deine Zeit ist abgelaufen.“ Der Innenminister Fernando Grande Marlaska und María Gámez, dem sozialdemokratischen PSOE nahestehend und von der Regierung Pedro Sánchez zur Chefin der Guardia Civil ernannt, erhalten ähnliche Morddrohungen. Die Patronen sind von einem Kaliber, das bei den Streitkräften und den Sicherheitsapparaten des Staates (Nationalpolizei und Guardia Civil) benutzt wird. In den Tagen darauf gehen weitere Morddrohungen an die gleichen Adressaten, später auch eine Drohung an Isabel Ayuso, amtierende Präsidentin und Kandidatin der Rechtspartei: Insgesamt 15 Patronen, die polizeilichen Ermittlungen sind bis heute ergebnislos.

„Hau ab!“

Die politische Atmosphäre lädt sich weiter auf während einer Debatte im Radiosender Cadena Ser, als sich die faschistische Kandidatin Rocío Monasterio weigert, die Morddrohungen gegen Pablo Iglesias zu verurteilen, diese als „Wahlkampfinszenierung“ bezeichnet und dem daraufhin die Debatte verlassenden Pablo Iglesias nachruft: „Hau ab, das ist das, was viele von uns Spaniern sich wünschen!“ Juan José Millán, bekannter Schriftsteller, vergleicht in einem Kommentar Monasterio mit den sadistischen Nonnen, die in den Frauengefängnissen unter Franco den republikanischen Häftlingen vor deren Hinrichtung mit dem Rosenkranz in der Hand den Kopf kahl rasierten.

Einen positiven Effekt hatte diese zunehmend explosive Atmosphäre: Der sozialistische Kandidat Ángel Gabilondo korrigierte seine Ablehnung eines Bündnisses mit dem „Radikalen“ Pablo Iglesias und richtete sich am Ende einer Fernsehdebatte an ihn mit dem Satz: „Pablo, uns bleiben 12 Tage, um die Wahlen zu gewinnen“.

Aber das hat den Siegeszug der Rechtspartei unter Isabel Ayuso nicht mehr bremsen können. Das Wahlergebnis hat die kühnsten Erwartungen des rechtsfaschistischen Blocks und die finstersten Befürchtungen der Linksparteien übertroffen: Isabel Ayuso, der in stundenlangen Fernsehdebatten ihre Lügen und ihre Verantwortung für tausende Coronatote um die Ohren gehauen wurden, hat den Prozentanteil ihrer Partei von 22,1 auf 45 mehr als verdoppelt. Gabilondos sozialistische Partei ist dagegen von 27,9 auf 16,9 Prozent geschrumpft. Sie ist sogar noch hinter Más Madrid, der Podemos-Abspaltung, gelandet und damit von der stärksten zur drittstärksten Partei im Madrider Parlament geworden. Der Einsatz von Pablo Iglesias für Podemos wurde immerhin mit einem Anstieg von 5.5.auf 7,3 Prozent „belohnt“. Noch am Wahlabend hat er seinen Rückzug aus der Politik bekanntgegeben.

Und die faschistische Partei VOX? Sie legte von 8,8 auf 9,2 Prozent zu und verfügt jetzt über 13 statt zehn Abgeordnete. Wie vorausgesagt, verschwand die rechtsliberale Partei Ciudadanos mit ihren 26 Abgeordneten spurlos von der Bildfläche.

Vier Sitze fehlen

Was heißt dieses Wahlergebnis für die Arithmetik im zukünftigen Madrider Parlament? Isabel Ayusos Rechtspartei verfügt über 65 Sitze, mehr als die 58 Sitze der drei linken Parteien PSOE, Más Madrid und Podemos zusammengenommen. Trotzdem fehlen ihr vier Sitze für eine Regierung, die sich auf eine absolute Mehrheit stützen kann. In der die Auszählung begleitenden Fernsehdiskussion wurde das bagatellisiert: Die Faschisten würden sich mit ihren 13 Abgeordneten beim zweiten Wahlgang halt der Stimme enthalten, sollte es zu keiner Koalition kommen. Als ob das nicht einen an die Faschisten zu zahlenden Preis hätte...

Diese „Verarbeitung“ des Wahlergebnisses ist eigentlich genauso erschreckend wie das Ergebnis selbst. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal TVE1 sitzen sich der Präsident der autonomen Region Murcia, Fernando López Mira (PP) und der Präsident der autonomen Region Castilla la Mancha, Emiliano García Page (PSOE) gegenüber. Fernando plaudert mit Emiliano wie mit einem guten Freund. (Hier muss daran erinnert werden, dass Fernando als Rädelsführer des Wählerkaufs und schließlich des Abgeordnetenkaufs zur Rettung seiner Regierung gilt). Mit keinem Wort wird von der Rolle der Faschisten in der zukünftigen Madrider Regierung gesprochen, stattdessen kommentiert Page fast mit Bewunderung den Wahlerfolg von Ayuso und das Wahlergebnis insgesamt als Schwächung der „Radikalen“. López Mira sieht im Erfolg von Ayuso dagegen vor allem eine Stärkung der Mitte-Rechts-Kräfte im Lande. Parallel dazu läuft eine Talkshow unter Journalisten, die mehrheitlich fast erwartungsfroh von der Wahl als „Wendepunkt“ in der spanischen Politik reden. Ansatzpunkt ist Ayusos Satz nach dem Sieg: „Die Tage von Pedro Sánchez sind gezählt.“ Und die Tage der spanischen Demokratie?

Es ist zu befürchten, dass die europäischen Partner zu dem Geschehen genauso schweigen werden wie zu den politischen Gefangenen in Katalonien.

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