Die Staatsreserve

KEHRSEITE Schicksalhafte Ereignisse pflegen sich hierzulande am 9. November zuzutragen. ...

Schicksalhafte Ereignisse pflegen sich hierzulande am 9. November zuzutragen.

Morgens noch hatte mich mein Vermieter gemahnt, endlich die ausstehenden Mieten zu zahlen. Abends war ich gerade im Bad, als plötzlich das Haus erbebte und der Wäschetrockner in die vergilbte Wanne stürzte. Ich riß die Wohnungstür auf. Vis-à-vis stand der alte Krischwitz, mit offenem Mund und ohne Gebiss. "Det war 'n Volltreffer irjendwo inne Nachbarschaft, mindestens hundert Kilo", krächzte er.

Als ich vorm Haus ankam, erläuterte Krisch witz eben dem hastig herbeigeholten früheren ABV Poldi Tempel, wie tief der Trichter sein müsste. Doch statt eines Trich ters blockierte allerlei Schutt den Bürgersteig vor dem alten Eckhaus am Bahndamm. Ich blickte nach oben: Die vierte Etage fehlte, der Dachstuhl war auf die dritte gestürzt. Aus der Eckkneipe dröhnte noch die "Polonaise Blankenese" herüber. Ein Dutzend bierseliger Gäste wurde soeben von einer Streifenwagenbesatzung hinausgezerrt. Kurz darauf krachte das Schild "Zur faulen Liese" auf den Gehweg.

Am Morgen verkündete der Rundfunk, in der Nacht sei ein mit Ausnahme eines Lokals leerstehendes Haus bei einer Gasexplosion zerstört worden, aber zum Glück sei niemand zu Schaden gekommen. Unterdessen waren die Straße gesperrt und der Bus umgeleitet worden. Vor den Zäunen parkten Autos von Versicherungen und Medien. So viele Passanten hatte die öde Sackgasse das ganze Jahrhundert nicht gesehen. Gegen Mittag tauchte am Drahtzaun Mama Leone auf, um eins war auch Tomate da. Fassungslos griffen die schrullige Alte und der hochrote Kahlkopf in die eiskalten Maschen und starrten auf ihr zerstörtes Domizil. "Mensch", schimpfte Krischwitz, "ohne die ›Faule Liese‹ kriegste in diese Gejend nich ma mehr 'ne Bulette, jeschweige denn 'n kleenet Hellet." - Wir sahen uns einen Augenblick stumm an.

"Sach ma, haste noch die olle Waschmaschine im Keller?" Ich bejahte zögernd. "Pass ma uff, du holst jetze bei Aldi zwanzig Becher Bautz'ner Mostrich und zehn Tüten jeschnittenes Toastbrot. Hinterher hol'n wir die Maschine ruff." Es war unschwer zu erraten, was der Alte plante. "Und was soll es zum Senf und Toastbrot dazugeben?" hakte ich nach. "Da drum mach dir mal keene Sorjen. Renn' lieber los, det wird 'n Bombenjeschäft!"

Als ich zurückkam, hatte ich außer Senf und Brot noch zehn Flaschen "Blauen Würger" sowie eine Riesenpackung Pappteller ergattert. "Nu ma 'n bisschen hurtig", trieb er mich an. "Wird Zeit, dass wir aus die Hufe kommen." - "Und woraus besteht das heutige Menü?" Wortlos zog er mich hinüber in seinen Keller. Ich bekam den Mund kaum zu. Über die ganze Wand hin bis unter die Decke stapelten sich in Zweierreihen Zehn-Liter-Dosen Halko-Würstchen. "Allet volkseigen, VEB Halberstädter Kombinat Wurstwaren, echte Friedensware!"

Während wir die Schwarzenberg auf den Böllerwagen wuchteten, ich das Wellrad montierte und die Maschine mit klarem Wasser auswusch, erklärte der Alte, wie er zu den Würstchen gekommen war. Bis '88 hätte er sich die Pförtnerschichten in einem Depot der Staatsreserve mit seinem Freund Erwin geteilt. Der hätte noch bis Ende '90 dort gearbeitet. Nach der Einheit sollten die Staatsreserve aufgelöst und auch diese Würstchen vernichtet werden. Eines Nachts hätte Erwin mit einem Robur im Hof gestanden und ihm gratis eine Wagenladung übergeholfen.

Mit Filzstift war an die Waschmaschine gemalt: "Hier Umtauschkurs 1:1 - 1 Bockwurst = 1 Mark!" Als erstes fragte ein Kind, was es hier gäbe. Wir schenkten ihm eine Wurst, worauf es freudig zu seinen Eltern lief. Durch das mehrfache Öffnen des Maschinendeckels drang der Duft heißer Würstchen allmählich hinüber zur Unglücksstelle. Wenig später waren wir die ersten hundert Würstchen los. Durchgefroren fiel ich abends in mein Bett.

Um sieben weckte mich der Alte in unmiss verständlichem Tonfall. Ob ich mich nicht langsam zu Aldi begeben wolle. Weißbrot und Korn seien alle, und spätestens um neun machten die Bauarbeiter Frühstück. Unsere erste Kundin an diesem Tag war Mama Leone. "Ein Würstchen ohne Senf bitte und zwei doppelte Klare" bestellte sie in akzentfreiem Hochdeutsch. Sie kippte die Doppelten mit einem Zug hinter, nahm den Pappteller und wankte davon. Krischwitz hatte "Echte Halberstädter" auf die Maschine gepinselt, das kurbelte den Umsatz in den nächsten Tagen nochmals kräftig an. Dank eines täglichen Reingewinns von rund 600 Mark pro Person überwies ich nach einer Woche meine Schulden an den Vermieter.

Zwei Wochen später hielt mir Krischwitz triumphierend die Rückseite einer Boulevardzeitung unter die Nase. "Katastrophe rettet Mieter vor Kündigung!" Wie Rumpelstielzchen tänzelte er vor mir herum. "Erfolg mit Naturdarm: Der rüstige Rentner K. (74) und der langzeitarbeitslose Jungakademiker S. (33) machten aus der Not eine Tugend." Es folgten intime Details über Krischwitz und mich sowie die Herkunft der Würstchen. "S., der die Miete kaum noch zahlen konnte, stand kurz vor der Exmittierung." Entsetzt starrte ich Krischwitz an. "K. plant nach zehn Jahren seine erste Urlaubsreise - nach Mal lorca." Krischwitz schwoll die schmale Brust. "Aber erst soll neuer Zahnersatz her" zitierte ich halblaut weiter. Sein Lächeln war verschwunden. "Disse Jemeinheit ham die elenden Westärsche sich selber ausjedacht!" schimpfte er.

Das ist jetzt Jahre her. Heute stehen wir nicht mehr mit der kleinen Schwarzenberg auf der Straße. Dafür hat die "PGH 9. November" acht Angestellte. Mama Leone ist eine wahre Pracht, was die Beschaffung von Alkoholika angeht. Zwei alte Barkasse haben wir mit Schwarzenbergs ausgerüstet. Krisch witzens Freundschaft mit unserem Kontaktbereichsbeamten Poldi Tempel verdanken wir manch nützlichen Hinweis auf Dach stuhlbrände, Rohrbrüche und ähnlich umsatzträchtige Katastrophen. - Ach ja, und der alte Krischwitz trägt jetzt ein strahlend sauberes Corega-Tabs-Gebiss.

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