Leihe Nach seinem Erfolg mit Didier Eribon inszeniert Thomas Ostermeier Édouard Louis’ „Im Herzen der Gewalt“. Dessen präzise Gesellschaftsanalyse schmilzt hier dahin
Zwei Bücher von Claude Simon und eines von Nietzsche trägt Édouard unter dem Arm, es ist der 25. Dezember, vier Uhr nachts auf der Place de la République in Paris. Ein Mann spricht ihn an, wirbt um ihn, wirbt darum, mit Édouard in dessen Wohnung zu gehen. Reda heißt der Mann. Édouard findet den Mann attraktiv, er will nicht mit ihm ins Bett, will aber doch, ziert sich, am Ende gehen sie gemeinsam nach oben. Sie schlafen miteinander, vier- oder fünfmal, als Édouard aus der Dusche kommt, erkennt er, dass Reda sein Handy und iPad eingesteckt hat. Er stellt ihn zur Rede, sehr vorsichtig, Reda wird gewalttätig, würgt Édouard, vergewaltigt ihn mit vorgehaltener Waffe und geht.
Das ist geschehen und wird nach und nach im Rückblick ge
ckblick geschildert und rekonstruiert in Édouard Louis’ autobiografischem Roman Im Herzen der Gewalt. Es spricht Édouard, der vom Krankenhaus berichtet, in das er dann ging, von den Polizisten auf der Wache, die er nach längerem Zögern aufgesucht hat. Und es spricht Édouards Schwester Clara, er besucht sie nach dem Vorfall im Heimatdorf in der Picardie, aus dem er floh, das er hasst, davon hatte Louis in seinem Erstling Das Ende von Eddy erzählt, der ihn vor vier Jahren mit Anfang 20 berühmt gemacht hat.Clara erzählt das, was Édouard widerfuhr, ihrem Mann – eine Situation, die Édouard beobachtet und seinerseits referiert. Das ist eine literarisch recht vertrackte Konstruktion, mit der Louis die Perspektive des schwulen Städters, der das Dorf hinter sich zu lassen versucht, mit der Perspektive der Schwester verschränkt, die den Bruder für dessen Erhebung über die Herkunft kritisiert. Ein Eigenleben gewinnt Clara als Figur dabei nicht, der Roman ist eine Suada, Claras Worte bleiben die von Édouard, der den kritischen Blick der Herkunft auf seine eigene Emanzipation ohnehin internalisiert hat: Er schämt sich für seine Herkunft, aber er schämt sich auch für diese Scham.Man kann nicht sagen, dass diese artifizielle Konstruktion danach schreit, auf die Bühne gebracht zu werden. Thomas Ostermeier hat es dennoch versucht. Er schließt so an seine erfolgreiche Inszenierung und Aneignung von Didier Eribons autobiografisch-soziologischer Herkunftsstudie Rückkehr nach Reims an. Der Bezug ist sehr klar: Louis ist so etwas wie ein Ziehsohn von Eribon und dessen Lebensgefährten, dem Philosophen Geoffroy de Lagasnerie.Streberhafte TexttreueAls Didier und Geoffroy sind die beiden im Roman omnipräsent, in der Bühnenversion, die Ostermeier und sein Dramaturg Florian Borchmeyer gemeinsam mit Édouard Louis verfasst haben, werden sie nur einmal erwähnt. Es gibt eine weitere nicht unwichtige Kürzung – der rassistische Schub, den das Verbrechen bei Édouard auslöst, spielt im Stück keine Rolle.Insgesamt bleibt die Theaterfassung dem Roman auf der Inhaltsebene aber fast streberhaft treu. So wird die Inszenierung zum exemplarischen Fall, und zwar für die Verzichtbarkeit eines formal letztlich naiven Versuchs, aus erzählender Literatur Theater zu machen. Keine Frage, Ostermeier hat sich bemüht. Er hat die Geschichte auf eine klare, zugleich variable Spielfläche gebracht. Grauer Boden, weiße Wand, die auch Leinwand ist für Filmaufnahmen, die dem Stück ganz äußerlich bleiben: Hat man halt so. Vier Mikros am Rand, an denen sich der Realismus von Zeit zu Zeit bricht. Wenige Requisiten. Eine Reihe von vier Wartezimmerplastikstühlen. Eine Dusche, das Bett als Tatort wird reingerollt werden, ein Fahrrad auch, später, als Édouard sich erinnert, wie er und ein paar Jungs immer im Dorf im Kreis fuhren, er setzt sich darauf, eine besonders dämliche, weil rein illustrative Idee. Dazu Musik-Live-Begleitung, rechts von der Spielfläche: Thomas Witte an viel Schlagzeug und wenig Keyboard. Getanzt wird auch, dreimal kurz, weiß der Teufel, warum.Die Schauspieler sind klar typisiert: Laurenz Laufenberg als schmaler blonder Édouard-Louis-Lookalike im hellrosa Pullover, der Brasilianer Renato Schuch vollbärtig als Kabyle Reda, Alina Stiegler im Leopardentop mit Blondhaarperücke, Zigarette im Mund, als prollig-scharfsinnige Schwester, Christoph Gawenda mit struppigem Oberlippenbart als Claras Mann, vor allem aber als Multifunktionsdarsteller, der von Édouard bis zu dessen Mutter in eine Rolle nach der anderen schlüpft. So ungefähr kommt das hin. Und da liegt das Problem des ganzen Abends: Aus der recht strengen literarischen Form wird ein recht ungefährer Darstellungsrealismus.Die Sätze des Buchs werden auf der Bühne gesagt, handwerklich gekonnt in Szene gesetzt. Aber sie befreien sich nicht. Und wie könnten sie auch: Die Körper, Gesten, Wörter der Darsteller bleiben verschwommene Zeichen für ein von Louis präzise beschriebenes Soziales; sie bleiben verschwommen, weil die Darsteller nur Schauspieler sind, die sich an einer schaubühnentypisch unreflektierten Form von Realismus versuchen. Man tut halbwegs überzeugend so, als ob. Gesellschaft als Wirkliches gibt es so nicht zu fassen. Die einzige Wirklichkeit des Abends ist dann bloßes, noch dazu bei der Literatur geborgtes Theater.Placeholder infobox-1
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