Wenn die Lichter ausgehen, stürmen die Menschen der ersten Sitzreihe - überwiegend Ältere in normalen Straßenkleidern, Dresdner Bürger - auf die Bühne, bilden an der Rampe eine geschlossene Reihe zum Publikum und loben ihre Stadt: "Es ist Platz für jeden hier." "Stolz, in dieser wunderschönen Stadt leben zu dürfen." "Es fehlt nur das Meer." Alles Antworten auf Fragen an die Theaterbesucher der letzten Spielzeit "nach den Wünschen, Ängsten und Meinungen unseres Publikums". 529 Antworten waren eingegangen, die "unter der Perspektive: Was haben Rechtsextremismus und Gewalt mit uns zu tun?" ausgewertet wurden und wörtlich eingebaut den Hintergrund bilden für die Volker Löschs Inszenierung von Georg Büchners Woyzeck. Nach dem Prolog gehen die braven Bürger ihren häuslichen Tätigkeiten nach, singen das Volkslied von den zwei Hasen, die "fraßen ab das grüne, grüne Gras bis auf den Rasen" - so steht es bei Büchner -, und nun kommen die Jungen hinzu und sprechen im Chor die unheimlichen Worte Woyzecks "Still! Es pocht! Was? Hohl da unten, alles hohl". Die friedliche Oberfläche bürgerlicher Gesellschaft erweist sich als Täuschung: Es rumort im Untergrund bei der Jugend, bei Woyzeck. Seine Verstörtheit und die seiner Generation, das spürbar gemachte Gewaltpotential entsteht auf der Bühne sinnlich wahrnehmbar aus dem Humus der Verdrängungen der Alten. Denen ist diese Jugend unangenehm, peinlich, eine Störung der mühsam genug gelungenen - oder eben nicht wirklich gelungenen - Einrichtung in der Post-DDR-Gesellschaft: "Seit der Wende hat die Gewalt unerträglich zugenommen. In der DDR war man beschützt, man musste keine Angst haben, denn die Gewalttätigen wurden weggesperrt". Um Erfolg in der nunmehr kapitalistischen Gesellschaft zu haben, der vielen von ihnen versagt blieb, "darf man keine Rücksicht auf andere nehmen", "muß man über Leichen gehen können." Die Jungen spüren die Hilf- und Perspektivlosigkeit der Alten und kultivieren ein Leben des Aktionismus, der jederzeit bösartig werden kann. Woyzecks Aggressivität richtet sich gegen Marie, die ihm untreu geworden ist - und die Gesellschaft, die das alles nicht nur mit angesehen hat, sondern die ihn mit der Nase darauf gestoßen hat, sieht seinen Mordabsichten tatenlos zu. Es gehört zu den aussagekräftigsten Engführungen der Büchner-Handlung mit der aktuellen Gewalttätigkeit der rechten Szene, Woyzeck seine Marie mit dem Messer minutenlang durch die gleichgültig wegschauende, dabei ausländer-ambivalente Sprüche aufsagende Menge verfolgen zu sehen, ehe er sie dann tatsächlich umbringt. Die Hetzjagd von Mügeln liegt noch keine drei Monate zurück.
Georg Büchner wurde mit dieser implantierten Text-Collage keine Gewalt angetan (die wenigen Buh-Rufer der Premiere schienen das behaupten zu wollen): Bekanntlich war er auch Naturwissenschaftler, ein Analytiker, Psychologe und Anatom; "Über Schädelnerven" hielt der 23-Jährige seine medizinische Antrittsvorlesung im selben Jahr, in dem "Woyzeck entstand - offene Szenen, Fragmente von Gesellschaftsanalysen, Untersuchungen über die Entstehung von Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft am Beispiel eines wahren Falles. Woyzeck war, wie dieselben scheinheilig behaupten, die ihn gleichzeitig in den Mord treiben, "ein guter Mensch" - der Chor der Alten spricht hier die hohlen Worte des Hauptmanns, der die Seelennot Woyzecks nicht erkennen will. War er, und sind die real existierenden Alten darum nicht zumindest mitverantwortlich, mitschuldig an der Gewalt der Jungen?
Das ist die herausfordernde These des Dresdner Woyzeck, die der Dramaturg Stefan Schnabel in einem differenziert-sensiblen Essay als "Tiefbohrung in die ostdeutsche Seele" bezeichnet, ein Wort, das hier nicht zu hoch gegriffen ist. Das Ereignis dieser Inszenierung aber besteht darin, daß dem Stück keine ideologische Botschaft übergestülpt wird. Der zupackenden Regie von Volker Lösch gelingt es, mit Büchners dichterischer Hilfe dem Lebensgefühl der Dresdner Chorus-Bürger von heute zu einer betroffen machenden dramatischen Authentizität zu verhelfen. Jener hatte schließlich 1836 keine Literatur um ihrer selbst willen geschrieben. Die Theatermacher von Dresden haben diesem Dramatiker die politische Reverenz erwiesen, die er verdient und die uns dient.
Man mag einiges kritisch beanstanden dürfen, das nicht funktionierte; die drei sichtbar engagierten Hauptdarsteller des Woyzeck (Viktor Tremmel), der Marie (Minna Wündrich) und des Tambourmajors (Kai Roloff) haben das teils verhindert, teils auch mit verschuldet - aber das ist unwesentlich. Wesentlich ist vielmehr etwas ganz Anderes: Indem es hier eindrucksvoll gelang, ein Bürgerpublikum sowohl zum kollektiven Autor als auch in Gestalt des 30-köpfigen Chores zum Sprecher der eigenen Stadtgemeinde zu machen, entstand eine völlig neue Form von politischem Theater. Sie alle spielen sich selber und halten sich ihren eigenen Spiegel vor. Nennen wir es "Bürgertheater": Die wieder entdeckte älteste Form europäischen Theaters, die griechische Tragödie, in deren Zentrum der Chor der Bürger Athens stand. Tatsächlich hatte sich Dresden mit demselben Regisseur bereits vor drei Jahren die Orestie in dieser Richtung erarbeitet, dann folgte die aufsehenerregende Aktualisierung der Hauptmann´schen Weber. Mit Woyzeck ist daraus nun eine Trilogie geworden. Wenn wir Glück haben, könnte mit diesem "Bürgertheater" ein neues Kapitel deutscher Stadt-Theatergeschichte beginnen. Wenn nicht, dann ist Woyzeck wenigstens ein politischer Modellversuch.
Termine unter www.staatsschauspiel-dresden.de
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