Er wird Rätsel aufgeben bis ans Ende aller Tage - dieser Gott unter den begnadeten Dichtern, dieser Riese unter den Großen des Theaters, dieser weltweit mit Abstand meistgespielte Dramatiker, dieser Schöpfer mythologischer Kunstfiguren wie Hamlet oder Romeo und Julia, von denen jede Stück-Bibliographie ein ganzes Telefonbuch füllen würde. Und zugleich wissen wir weniger über ihn als über andere Personen der Weltliteratur - mit Ausnahme Homers. Und was wir von ihm wissen, ist so nutzlos wie totes Bruchgestein: Tauf- und Todesdatum, Eheschließung, ein paar Rechnungen, Unterlagen über Grundstücksspekulationen, seine nur mühsam rekonstruierbare Leitung einer der vielen Theatergruppen im London des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, ein krakeliger Namenszug, der eher von einem des Schreibens nur mühsam Kundigen zu stammen scheint als von einem Autor, der in seiner produktivsten Zeit mit leichter Hand drei bis vier Stücke im Jahr anfertigte, ein Testament, das bei der Aufzählung des Besitzes nicht ein einziges Buch erwähnt (Bücher waren damals Wertgegenstände!), geschweige denn die Rechte am lukrativen Verkauf der ersten gedruckten Dramen; die frühesten Zeugnisse und Berichte über ihn wurden erst knapp fünfzig Jahre nach seinem Tode nach Hörensagen aufgeschrieben - die zwei oder drei Porträts sind zweifelhaften Ursprungs und kaum zu Lebzeiten entstanden. Kein Wunder, dass die Shakespeareologie blüht und gedeiht - ein weites Feld, auf dem sich viele tummeln können.
Es gibt da zwei Gemeinden: Die Biographisten und die Literaturwissenschaftler. Die Letzteren haben den für die Literatur einmaligen Glücksfall vor sich, nur das Werk pur interpretieren zu können - keine psycho-biographische Hilfestellung liefert ihnen den Schlüssel zum Verständnis: Das Wort, und nur das Wort, der Text und nur der Text zählen. Und die sind spannend und aufregend genug - ja, eben das Fehlen biographischer Zeugnisse gibt dem Werk seine einsame, rätselhafte, nie letztlich zu entschlüsselnde Größe und Faszination. Die Biographisten hingegen haben es leichter und schwerer zugleich: Leichter, weil das weitgehende Fehlen einschlägiger Dokumente und Zeugnisse (was kann eine Biographie ohne Zeitzeugen, Berichte von Freunden und Verwandten, ohne auch nur eine Briefzeile - von Tagebüchern ganz zu schweigen - schon berichten?) das Feld freigibt für die schönsten Spekulationen und Erfindungen. Schwerer haben sie es aus den genannten Gründen - und so filtern sie mühsam aus den Dramen Hinweise auf das Landleben in Stratford-on-Avon, auf einen längeren Aufenthalt in Italien, auf intime Kenntnisse des elisabethanischen Hofes, auf Shakespeares geheimen Katholizismus im England zwischen Reformation und katholischer Reaktion und konstruieren daraus ihre Geschichte.
Und dann gibt es noch die wachsende Gruppe derer, die Shakespeare schlicht die Autorschaft an seinen Dramen und Dichtungen überhaupt absprechen: Der auf einer lokalen Lateinschule allenfalls oberflächlich gebildete Schauspieler und Theatermacher William S. sei der Strohmann für einen der literarisch, philosophisch und naturwissenschaftlich gebildetsten Männer seiner Zeit gewesen, der es sich aber aus Gründen des Standes und gesellschaftlicher Rücksichten nicht erlauben konnte, in erster Person seine Stücke zu publizieren und aufführen zu lassen. Aber wer war dieser bedeutende Anonymus? Es gibt mindestens ein halbes Dutzend ernsthafte Anwärter, alle mehr oder weniger glaubwürdig - zwei oder drei sehr wahrscheinliche Kandidaten (alle plausibler jedenfalls als William Shakespeare oder Shakspere oder Shaxpere) - aber beweisen lässt sich nichts.
Der Harvard-Historiker Stephen Greenblatt, von Kennern der Schule der "New Historicists" zugeordnet, hat die Methode mikro-gesellschaftlicher Analyse seit Jahren an Shakespeare erprobt und die Ergebnisse in Buchform unter dem Titel Will in der Welt zusammen gefasst. Ein angemessener Titel. Die Frage nach der Autorschaft interessiert ihn dabei nicht, er diskutiert sie nicht einmal. Es hat diesen William Shakespeare gegeben (was niemand ernsthaft bezweifelt), und wenn wir schon über seine Persönlichkeit nichts wissen, so können wir doch "mikrosoziologisch" eine unglaubliche Menge von Details über seine unmittelbare Umgebung, in der er aufwuchs - Stratford-on-Avon, London und das Land dazwischen - herausfinden, wenn wir uns, wenn Greenblatt sich stellvertretend für uns in die Archive der Shakespeare-Zeit (1564-1616) begibt.
Wie groß war Stratford, wovon lebten die Menschen, wovon die Eltern, welche urkundlich belegte Rolle spielte der Vater in der Stadt, was machten die Geschwister, wie sah das Schulwesen aus, wer unterrichtete dort was und wie, wie und wo könnte der Knabe William zum erstenmal einer Theatergruppe begegnet sein, wer waren diese reisenden Theaterleute, was war ihr rechtlicher Status, was spielten sie, wer ging zu ihren Spektakeln, welcher Art waren die zahlreichen Volksfeste auf dem Lande ...
Und dann London, die damals mit 200.000 Menschen nach Neapel und Paris drittgrößte Stadt Europas: Welche Kultur der öffentlichen Unterhaltung gab es da (zum Beispiel die grausamen Tierhatzen), welche Theater, was konnte William auf dem täglichen Weg zur Arbeit sehen (zum Beispiel prominent auf der größten Themse-Brücke die aufgespießten Köpfe hingerichteter Verbrecher oder politischer Gegner der Königin), was waren die hygienischen Verhältnisse, wie wurde das Rechtsinstitut der Ehe gehandhabt, wie sah das Erbrecht aus, was bedeutete es, wenn William Shakespeare seiner Frau testamentarisch lediglich sein "zweitbestes Bett" vermachte, wie wirkte sich der große Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken, das religiöse Hin-und-Her der Monarchen für die kleinen Leute aus, für die Priester, in den Schulen. Die ganz große Politik - etwa das dramatische Ende der spanischen Armada - interessiert Greenblatt aus dieser bodenhaftigen Perspektive nicht: Es geht ihm um die konkrete Welt des "Will", um das, was der gesehen und erfahren haben kann.
Kann, nicht notwendigerweise hat: Die Darstellung lebt von hypothetischen Aussagen des "möglicherweise", des "er mag" dies oder jenes dabei gefühlt, "er könnte dabei gedacht haben"; der Autor hält es für "wahrscheinlich", dass sich die Urszene von Shakespeares erster Begegnung mit dem Theater in einer bestimmten Weise abspielte, wobei er "zwischen den Beinen seines Vaters gestanden hätte"; als die Königin im Stratford-nahen Coventry einen Besuch machte, "könnte man ihn dorthin mitgenommen haben", undsoweiter. Greenblatt ist als Biograph kein Romancier, sondern immer Historiker der materiellen Welt seines Helden. William, so vermutet er, half als junger Mann im Laden des Vaters aus - und wenn man wie Greenblatt sehr genau liest, findet man in den Stücken Verweise auf Handschuhe und Lederwaren, die im väterlichen Laden verkauft wurden. "Zweifellos (!) schrieb er in seinen Mußestunden Gedichte, aber seine Familie hätte sich kaum dafür abgerackert, für seinen Müßiggang aufzukommen. Papier war teuer. Ein Packen Papier, der, sorgfältig gefaltet und beschnitten, etwa 50 kleine Blätter ergab, hätte mindestens 4 Pence gekostet, und dafür bekam man 8 Pints Ale, mehr als ein Pfund Trauben, ein Pfund Hammelfleisch und ein Pfund Rindfleisch, 24 Eier oder zwei Laibe Brot. Vielleicht schnitt der junge Will seine Verse wie Orlando in Wie es euch gefällt in die Rinde von Bäumen." Aber Greenblatt scheut sich auch nicht, bis an die Peinlichkeitsgrenze zu spekulieren: Aus dem Testament zum Beispiel eine inzestuöse Beziehung zur 20 Jahre jüngeren Tochter Susanna abzuleiten, oder aus der rätselhaften Grabinschrift den Wunsch, auf keinen Fall die angeblich ungeliebte Frau an seiner Seite bestattet zu sehen.
Worauf läuft das Ganze hinaus? Eine sozialgeschichtliche Bestandsaufnahme der Lebenswelt der kleinen Leute, der Handwerker, Bauern und Händler, unter denen der spätere Theatermann William Shakespeare aufwuchs und der er zeitlebens verhaftet blieb - einschließlich der Rückkehr als gemachter, wohlhabender Mann in seine Geburtsstadt zu Frau und Kindern. Und Greenblatt zeigt, wie sich diese Welt in den Stücken widerspiegelt: in der Bodenständigkeit seiner Figuren, dem Laientheater des Peter Squenz, dem trunkenen Falstaff, den Schäferszenen des Wintermärchens; die weitverbreiteten Erb- und Vater-Kinder-Konflikte im King Lear, die Empirie so vieler unerfüllter Ehen in der weitgehenden Aussparung dieses Themas (ausgerechnet Macbeth und seine Lady, der Mörder Claudio und seine Gertrud im Hamlet als die einzigen wahrhaft partnerschaftlichen Beziehungen ...), der überaus lebendige Hexenglauben (King James schrieb sogar ein Buch dazu) im Macbeth. Aber letztlich bleibt die Ausbeute, wenn man wirklich Erhellendes über Shakespeares Universum erfahren will, trotz mehr als 500 Seiten leicht lesbaren Textes (von Martin Pfeiffer schön und flüssig übersetzt) allzu mager. Harold Bloom, dessen überwältigend globales Shakespearebuch Die Erfindung des Menschlichen vom selben Verlag verdienstvollerweise herausgebracht wurde, hätte mit diesen detaillierten Befunden kaum etwas anfangen können. Das liegt nicht nur an der ausschließlichen Orientierung an der historisch-materiellen, statt an der die Geschichte transzendierenden und darum einzig wirklich aufregenden geistigen Welt Shakespeares: Es hat auch etwas zu tun mit Greenblatts Verweigerung, die Autorschaftsfrage überhaupt ernst zu nehmen.
Tatsächlich lässt sich nämlich diese auf absehbare Zeit als solche kaum zu überholende, weil ihre Fragestellung erschöpfende Untersuchung (sie könnte durch zusätzliche Archivfunde allenfalls erweitert und vervollständigt werden, wird jedoch kaum wieder veralten) auch als unfreiwilliger, aber eindrucksvoller Beweis dafür lesen, dass der hier geschilderte historische Shakespeare nicht Autor "seiner" Werke gewesen sein kann. Denn die so minutiös rekonstruierte Welt des erfolgreichen Theatermannes enthält als gelebte Erfahrung nichts von dem, was die stofflichen Inhalte der Dramen und Komödien tatsächlich ausmacht: Über die ohnehin stupende Belesenheit und Bildung des Stückeschreibers hinaus (und die erwirbt man nicht auf einer noch so guten Lateinschule einer mittelenglischen Kleinstadt von 2.000 Seelen mit nur einem Lehrer) hatte der Dichter eine intime Kenntnis der Innenwelt des englischen Adelsgesellschaft im allgemeinen und des elisabethanischen und danach des jakobischen Hofes im besonderen.
Ist man von der Gründlichkeit, mit der der Detektiv Greenblatt auch den abwegigsten Spuren nachgegangen ist, beeindruckt - und sie ist eindrucksvoll -, so hat William Shakespeare zu dieser hochgebildeten und kulturell ungewöhnlich aufgeschlossenen Schicht überhaupt keinen Zugang und keine Beziehung gehabt. Für einen Schauspielunternehmer verwundert das überhaupt nicht - für den Dichter der Königsdramen und der durchweg aus dem aristokratischen Milieu lebenden Komödien, für den Mann, der Hamlet und King Lear schreiben konnte, ist das kaum vorstellbar. So gesehen wird also auch dieses materialreiche Lesebuch nicht das letzte Wort über William Shakespeare in dieser Welt sein. Der bleibt ein offenes Wunder.
Stephen Greenblatt: Will in der Welt. Wie Shakespeare zu Shakespeare wurde. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Berlin 2004, 507 S., 24,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.