Ich weiß nicht, was soll es bedeuten: plötzlich werden überall die großen griechischen Tragödien gespielt: Orestie und Perser, Antigone, Ödipus und Elektra, Bakchen, Medea, sei es in Frankfurt oder Dresden, in München oder Dortmund, in Cottbus, Karlsruhe oder Bielefeld - in den verschiedensten Übersetzungen, aber alle mit dem Anspruch der erstaunlichen "Aktualität" dieser zweieinhalbtausend Jahre alten Stücke auftretend.
Als Peter Stein vor gut 30 Jahren mit seiner Schaubühne ein großes "Antikenprojekt" unternahm, kulminierend in der inzwischen legendären neunstündigen Orestie, da war das sowohl eine Sensation als es auch ein Solitär blieb. Jetzt, wo diese maßstabsetzende Aufführung Geschichte und kaum mehr lebendige Erinnerung ist, kann das Deutsche Theater seinen "Antikenschwerpunkt der Saison" aus dieser auf zwei Stunden und 45 Minuten eingedampften Riesentrilogie, der Medea des Euripides (1 h 15) und Die Perser (1 h 30) bilden. Rein zeitlich könnte man dieses Programm also in einem Abend unterbringen.
Vielleicht sagt das bereits etwas aus über einen Zeitgeist, dem die innere Ruhe fehlt für die Anstrengungen des langen Weges zur Wahrheit der Dichtung, der seinem Theaterpublikum verspricht, möglichst rasch "zum Punkt" zu kommen und mit solcher Ungeduld und Verkürzung von Handlung und Argumenten Aktualität demonstrieren will. Große Kunstwerke sind immer aktuell. Wer sie aber mit dem belehrenden Zeigefinger interpretiert, der verletzt sie, indem er sie auf griffige Botschaften reduziert, die man dann als Leerformeln "getrost nach Hause tragen" kann.
Gerade das aber wollte die griechische Tragödie nicht. Ihre die Jahrtausende überlebende Aktualität besteht in der Dialektik von Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit, darin, dass sie in konkreten Kontexten entstanden ist und diese reflektiert, sie aber zugleich auch transzendiert, indem sie die verhandelten Problematiken gewissermaßen verewigt. Und eben diese Verhandlungen über gesellschaftliche, psychologische, juristische und politische Konflikte im "Stadtstaat", der Polis Athen des 5. Jahrhunderts vor Christus brauchten Zeit, Geduld, Zuhörenkönnen, Mitdenken zur Ausbildung der Urteilsfähigkeit des Publikums. Diese Tragödien sind Lehrstücke - aber nicht solche wie Brecht sie schrieb, die die richtigen Antworten deutlich genug nahe legen, sondern es sind echte Lehrstücke mit offenem Ausgang: Auf welcher Seite ist das Recht - bei Kreon oder Antigone, bei Medea oder Jason, bei Klytaimestra, die Agamemnon erschlägt, weil er ihre unschuldige Tochter geschlachtet hatte, um seinen Krieg erfolgreich zu führen, oder bei Orestes, der diesen Mord am Vater rächt, damit aber gleichzeitig zum Muttermörder wird? In der Schule des Theaters, das in Athen bis zu 17.000 Menschen fassen konnte, lernten die Bürger das eigenständige Urteilen, den Kant´schen "Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen". Das griechische Theater ist der Geburtsort der Demokratie. Könnte es eine größere Aktualität geben?
Man wird einigermaßen sicher gehen mit der Behauptung, dass keiner der 601 Besucher der überwiegend ausverkauften Orestie-, Medea- oder Perser-Vorstellungen diesen Fragen nachgeht, geschweige denn dass darüber öffentliche Diskussionen geführt werden. Und das nicht nur, weil unsere Theater generell (von sehr gelegentlichen so genannten "Publikumsgesprächen" abgesehen) sich dafür nicht öffnen, sondern weil gerade im Falle dieser unvergleichlichen und nicht zuletzt auch dramaturgisch meisterhaft konstruierten Stücke deren Reduktion auf das vermeintlich "Wesentliche" ihnen den monumentalen Atem, die Dimension des "größer als die Wirklichkeit" nimmt.
Das wird von der Medea-Inszenierung (Barbara Frey) geradezu erschreckend exemplarisch vorgeführt: In der Mitte einer großen weißen Bühne eine neubauzimmerkleine Wohnküchen-Box mit Herd, Waschmaschine und Liegecouch - die kleinbürgerliche Welt Medeas - und entsprechend kleinformatig ist auch ihre Tragödie, dass nämlich ihr Mann Jason sie mit ihren zwei Kindern zugunsten einer besseren Partie und jüngeren Frau verlässt. So etwas passiert schließlich jeden Tag, und eben das sollen wir auch im Spiegel der antiken Tragödie wiedererkennen. Alles schon mal dagewesen, alles wiederholt sich - allenfalls dass eine Mutter ihre eigenen Kinder und zusätzlich die Geliebte des treulosen Vaters umbringt, das geschieht nicht alle Tage, aber Ähnliches durchaus. Stoff für Bild-Zeitung und BZ - aber mehr auch nicht. Indem die mythologische Medea zur gequälten Hausfrau von nebenan degradiert wird, verliert sie ihre übernatürliche Größe und damit auch das Exemplarische ihres Leidens, das "aktualisierend" herauszustellen die allzu offensichtliche Botschaft der Inszenierung ist. Und wiederholtes Sich-Anschreien der Antagonisten Jason und Medea geben ihren Argumenten, die das Publikum zum Urteilen befähigen sollen, kein zusätzliches, sondern ein pseudo-dramatisches Gewicht.
Ganz anders dagegen die thematische Zugabe in der box+bar, der neu eingerichteten Kleinbühne im Foyer der Kammerspiele des DT: Hier inszeniert André Rößler als Diplomarbeit der Schauspielschule Ernst Busch eine bewusst moderne Version des Holländers Tom Lanoye, Mamma Medea. Während der erste Teil die Argonauten-Vorgeschichte als exotische Fabel erzählt (leider auf so unbeholfen peinliche Weise, dass der Rezensent versucht war, den Raum fluchtartig zu verlassen), wird der zweite Teil, Medea in Korinth, dann zum auch schauspielerisch spannenden modernen Ehe-Drama, das beiden Positionen und Sichtweisen, Jasons und Medeas, gleichermaßen Gerechtigkeit widerfahren lässt und insofern weit besser als die Großinszenierung nebenan der Aufforderung zur eigenen Urteilsbildung des Publikums gerecht wird. Ein schönes Beispiel lebendiger Adaption dieses großen Stoffes.
"Tun - Leiden - Lernen" ist der chorisch vorgetragene basso-continuo-Anruf an das Publikum der Orestie-Kurzfassung von Michael Thalheimers Inszenierung (siehe auch Rudolf Mast im Freitag 39/2006). "Tun - Leiden - Lernen" wird aber durch seine vielfache Wiederholung nicht klarer und es käme auf den Testfall an, wer sich darunter was zu denken angeregt wurde: Führt das Tun notwendig zum Leiden, das Leiden notwendig zum Lernen? Oder wäre es eine Kann-Sequenz? Diese großen Texte, vor allem die des Aischylos, sind oft dunkel und dürfen, ja müssen es auch oft bleiben. Thalheimer verwendet die Übersetzung Peter Steins, aber er lässt ihr nicht den langen Atem des Argumentierens und damit der "demokratischen Urteilsbildung", zu der darum hier im Eilverfahren aufgerufen wird: Agamemnons Zwangslage als Heerführer und Vater der zu opfernden Iphigenie, Klytaimestras nachvollziehbar schmerzerfüllter Hass, Orestes´ Dilemma - das alles kommt komprimiert zur Sprache, in kurzen Momenten auch überzeugend (Klytaimestras/Constanze Beckers Leiden am Bericht über den blutigen Opfertod der Tochter), ebenso die weitsichtige politische Warnung an die Athener Bürger der gerade beendeten Perserkriege, dass aus den Siegern von heute die Besiegten von morgen werden können. Das alles erreicht vordergründig den Verstand, nicht aber das komplexe tiefere Verstehen, wozu es des längeren Atems bedarf.
Aischylos wusste, warum er einen Tag brauchte, um die Geschichte nachhaltig zu erzählen. Es gibt zwar auch in dieser Schnellfassung eindringliche Momente, wie den Schlussmonolog Orestes´, der, bei gleißendem Licht gesprochen, an Horatio/Hamlet "to tell my story" erinnert - aber dann wird um einer billig-aktuellen Botschaft willen ein Appell "Frieden für immer" willkürlich und lautstark aus dem Zusammenhang gerissen und aus Aischylos ein Pazifist gemacht, während es dem um etwas ganz anderes ging, nämlich die Versöhnung des Alten mit dem Neuen zur inneren Befriedung der Polis. Der eigentliche Protagonist dieser Orestie aber ist das reichlich ausgegossene Bühnenblut, zu dem das Programmheft zwar viel kulturhistorisch Tiefsinniges zu sagen hat, in dem aber die ohnehin extrem verknappten argumentativen Diskurse eher ertrinken, als dass sie verstärkt und intensiviert würden.
Das direkte Gegenteil zu Thalheimers Bühne - und die dritte im "Antikenschwerpunkt" vorgeführte Variation möglicher theatralischer Vergegenwärtigung - ist Dimiter Gottscheffs Inszenierung der Perser. Über diese wunderbar schlichte, primär dem Wort verpflichtete, geradezu mustergültig minimalistische Vergegenwärtigung des ältesten europäischen Bühnenwerkes (hier in der sprachmächtigen Fassung Heiner Müllers) wurde bereits lobend genug berichtet (siehe auch Rudolf Mast im Freitag 41/2006). Und doch ist ihre szenisch eindrucksvolle Ausgangshypothese zutiefst frag-würdig: War der siegreiche Überlebenskampf der freien griechischen Städte, die sich zu Beginn des 5. Jahrhunderts gerade anschickten, die Politik als Selbstbestimmung zu entdecken und damit für uns historisch zu begründen, ursächlich tatsächlich nichts anderes als ein infantiler Hahnenkampf, ein kindisches Sandkastenspiel, aus dem dann blutiger Ernst wurde? Es wird hier im Bild von zwei Männern repräsentiert, die eine drehbare Mauer anfangs spielerisch, dann mit zunehmender Aggressivität gegeneinander bewegen. Für neun von zehn, auch für 99 von 100 blutigen Kriegen mag das zutreffen - Bush vs. Saddam Hussein ist lediglich die jüngste Variante - nicht aber für diesen einen welthistorischen Konflikt zwischen den freien Poleis und der imperialen Herrschaft einer Diktatur. "Keines Mannes Sklaven rühmen sie sich und nicht untertan" nennt Aischylos das in diesem glücklichen Augenblick der Geschichte gelungene Experiment. Wäre es zwischen 490 und 479 von der militärischen Übermacht des Perserreichs ausgelöscht worden, hätten wir heute eine ganz andere Gesellschaft - nicht zuletzt eine ohne Theater.
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