Die Fehlentwicklung der Moderne korrigieren

Offener Brief an Umweltminister Trittin Sehr geehrter Bundesumweltminister ...

Sehr geehrter Bundesumweltminister ...

... als einer von den vielen, die den rot-grünen politischen Neuanfang mit kritischer Hoffnung begleiten, verfolge ich mit großer Anteilnahme die gegenwärtigen Konflikte um den Ausstieg aus der Atomenergie.

Das Umweltministerium ist mit Ihrer Amtsübernahme zu einer Schlüsselposition für eine veränderte deutsche und langfristig auch europäische Politik geworden, weil eine Umkehr in der Energiepolitik weit über sich selbst hinausführt. Der Bundeskanzler mag für die deutsche Politik »in ihrer Gesamtheit« zuständig und verantwortlich sein, der Vizekanzler mag als Außenminister viel Publizität für seine »Kontinuität« (mit ein paar sympathischen anderen Akzentsetzungen) genießen - Sie aber stehen dem Ministerium vor, auf das die Grünen wegen ihrer Herkunft, Programmatik und vor allem der Erwartungen der Wählerschaft einen exklusiven politischen Anspruch haben. Von keinem anderen Regierungsamt kann man das auch nur annähernd sagen: gewiß nicht vom Auswärtigen Amt, allenfalls noch vom Verteidigungsministerium, wenn dieses denn in ein Abrüstungsministerium verwandelt worden wäre, wie es eigentlich auf der historischen Tagesordnung steht.

Sie brauchen an die Geschichte und die damit eingegangenen Verpflichtungen der Grünen nicht erinnert zu werden - oder vielleicht doch? Der jahre-, jahrzehntelange Aufklärungskampf über die gigantische Fehlentwicklung der Moderne, die in der Atomenergie gipfelt, war insofern gewonnen worden, als es die Partei der Grünen nunmehr gibt, die sich ihrerseits in einem breiteren Umfeld einer für viele Dimensionen des Umweltdramas deutlich sensibilisierten deutschen Meinungsöffentlichkeit bewegt, was seinen Niederschlag ja in der Programmatik inzwischen aller Parteien und vieler gesellschaftlicher Verbände gefunden hat. Das war und ist nicht nur eine große politische Leistung unzähliger Initiativen und »Basisgruppen«, es hat auch das geistig-politische Klima Deutschlands wesentlich verändert, das heißt zum Zivilgesellschaftlichen hin verbessert. Warum Gleiches in anderen europäischen Ländern nicht gelungen ist, darf man sich fragen - wichtig ist es aber im Moment nur insofern, als damit der in Deutschland sich bietenden Chance verantwortungsbereiter »grüner Politik« auch eine europäische »Avantgarde«-Rolle zufällt, ob man das will oder nicht, und man braucht sich dessen nicht zu schämen.

Ich schreibe Ihnen vor allem wegen der Schwierigkeiten und Konflikte, in die Sie und Ihr Ministerium mit der Durchsetzung des Beschlusses zum Ausstieg aus der Atomenergie geraten sind. Bisher war dieses Ministerium ja eher zuständig für kosmetische Operationen, für kleinere Korrekturen und Absichtserklärungen. Jetzt wird es ernst. Worum es geht - und das darf und muß erinnert, das darf und muß laut gesagt werden - ist ja nichts weniger als ein säkularer Bruch mit einer Ideologie und Technologie, die ihre Wurzeln tief in der westlichen Wissenschaftstradition hat, in der europäischen Geistesgeschichte seit der Renaissance (wenn nicht noch viel weiter zurückreichend in die griechische Antike): Freisetzung von Energie zum Betreiben der technologischen Fortschrittsmaschinerie - Wind, Wasser, Kohle, Dampf und schließlich das gespaltene Atom. Eines folgte geradezu logisch und mit linearer Konsequenz aus einer immer systematischer anwendungsorientierten Natur-Unterwerfungswissenschaft, wobei der Staat immer auch seine helfende Hand im Spiele hatte: ohne den Krieg und das »Manhattan-Projekt« - wer weiß, ob wir heute die Atomenergie hätten; aber wir haben sie, und die Politik war ihre Geburtshelferin. Und eben weil die Geschichte und Vorgeschichte der Atomenergie so tief in ideologischen Grundannahmen, vielleicht darf man sogar sagen: in historisch verfestigten Instinkten verankert ist (»Fortschritt«), ist der Widerstand gegen den Ausstieg auch so heftig, weit über identifizierbare schlichte ökonomische Interessen hinaus.

Warum waren und sind die Grünen, warum sind Sie als nunmehr in entscheidender Position handelnder Minister gegen die Atomenergie, für den Ausstieg? Wozu ich Sie mit aller Dringlichkeit auffordern und bitten möchte, ist, sich und uns allen die Notwendigkeit dieses Austretens aus der scheinbar eigendynamischen Logik der Technologie- und Fortschrittsgeschichte zu erklären. Sie können und dürfen es nicht zulassen, daß dieses große Projekt zum Gegenstand kontroverser Rechtsansprüche und Vertragsauslegungen unter Experten verkommt und dann auf dieser Ebene irgendwie »gelöst« wird; damit würden Sie bestenfalls taktische Erfolge erzielen, aber die Sache nicht gewinnen. Was gefordert ist, was Sie sich und uns schuldig sind, ist die klare und deutliche, differenzierte und zugleich eindeutig erinnernde Begründung dafür, daß und warum mit Fortführung oder Abbruch der Atomenergie-Politik nichts weniger als ein Teil der Zukunft der Menschheit (so hoch dieser Anspruch auch klingen mag) auf dem Spiele steht, und warum mit diesem Ausstieg dort ein Anfang gemacht werden muß, wo sich die historische Chance bietet - was jetzt gewissermaßen zufällig in Deutschland passiert.

Erklären Sie nicht nur den Deutschen - jenseits der Grünen - worum es hier geht, sagen Sie es auch den Europäern, die ja von dieser Entscheidung offensichtlich indirekt und direkt betroffen sind und anscheinend Ihre Position eher für eine Marotte deutscher Umweltdogmatiker halten, als darin ihr eigenes Schicksal zu erkennen als eine gesamtgesellschaftliche und gesamtpolitische Grundsatzfrage von größter Brisanz. Sprechen Sie von Hans Jonas' eindrücklichem »Prinzip Verantwortung« angesichts unkalkulierbarer Risiken der Technologien und überzeugen Sie uns und alle Skeptiker davon, daß Sie - im Unterschied zu den Ausstiegsgegnern - keine Gruppen- oder Profitinteressen vertreten, sondern der Politik als Verantwortungsübernahme für alle und auch für die Zukunft ihre Würde der Selbstbestimmung zurückgeben wollen. Erheben Sie sich und die große Debatte über das bornierte Niveau eines für den engagierten Beobachter kaum mehr nachvollziehbaren Grabenkampfes und der Auseinandersetzungen mit den Atommanagern, die, Interessenvertreter ohne Verantwortung für das Gemeinwesen, nicht einmal den Versuch machen zu verstehen, worum es hier letztlich geht.

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