Peer Gynt in dieser Spielzeit als Kontrastprogramm etwa zu Thalheimers Faust II am Deutschen Theater sehen zu können, ist nicht nur spannend wegen der radikal verschiedenen theatralischen Parameter, die in dieser Konfrontation sichtbar werden - elitäre Arroganz versus sich selbst zurücknehmende Erzählhaltung - sondern auch wegen der hier verhandelten Sache: Peer Gynt ist Henrik Ibsens Variante des Faust-Stoffes, ein Mann, dem die Welt, so wie er sie vorfindet, nicht genügt, der zwar nicht auszieht zur Erkenntnis dessen, was sie "im Innersten zusammenhält", der aber wissen will, wer oder was er selbst ist, was es bedeutet, Individuum und Mensch zu sein.
Ist es falsch, vorauszusetzen, dass die meisten Menschen sich dieser Frage nicht stellen? Im Theater, dieser einzigartigen Institution von Öffentlichkeit, können sie sich ihr zum Publikum geworden nicht entziehen - zumal wenn sie mit solcher Dringlichkeit vorgestellt wird wie in Cottbus: Wer auch nur mit einem Minimum von Neugier und Erkenntnisinteresse ins Theater geht, der wird sich nach diesem Peer Gynt vielleicht ganz leise und beunruhigt fragen: Wie sieht es mit meinem eigenen Leben aus? Habe ich meine Möglichkeiten wahrgenommen? Habe ich mein Leben wirklich gelebt oder es auch so wie Peer Gynt, von Äußerlichkeiten des Erfolges verblendet, verspielt? Was würde von mir bleiben, wenn ich wie diese Sympathie einfordernde Bühnenfigur in einer Schlüsselszene die gleichnishafte Lebenszwiebel auf der Suche nach dem Kern meines Selbst schälte? Peer Gynt (Jan Krawczyk, als energiegeladener junger Peer Gynt eine Entdeckung, als älterer und dann alter Mann weniger überzeugend) hält am Ende nur leere Schalen in der Hand.
Bei Faust heißt es an dieser Stelle: "Ich bin nur durch die Welt gerannt;/Ein jed´ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,/Was nicht genügte, ließ ich fahren". Während man bei Thalheimer davon nichts zu sehen bekommt, lässt die Regisseurin Saskia Kuhlmann in Dieter Richters einfach-realistischen und zugleich multi-flexiblen, einfallsreichen Bühnenbild (eine Fensterwand im Hintergrund erlaubt die Lokalisierung der globalen Schauplätze für die Odyssee unseres Helden) mit disziplinierter Spielfreude "die Puppen tanzen": Teilweise sogar buchstäblich wie in den von Michael Apel choreogaphierten Tänzen der Trolle und der muslimischen Wüstenkinder. Sigrun Fischer als verführerisch-attraktive Trollstochter und später als Anitra ist ein erfreulich belebendes Element dieses bunten Welttheaters. Hier wird solides, handwerklich gutes Theater gemacht - ständig gibt es viel zu sehen und kaum Momente, in denen die Spannung nachlässt. Denn Ibsen wollte (wie auch Goethe), dass man das gleichnishafte Schicksal dieses Menschen auf der Flucht vor sich selbst so lebendig und kräftig miterlebe, wie es die Bühne nur zulässt, damit sein tiefer Sturz - und die mögliche Erlösung - dann um so eindringlicher auf uns wirke. Die Gestaltung dieses schwierigen, weil bei Ibsen (wie bei Goethe) offenen Schlusses wird zu einem eindrucksvollen Höhepunkt, entlässt uns mit der Faust-Gynt-Frage nach uns selbst und deutet sehr subtil eine mögliche versöhnliche Antwort an: Solveig hat, ohne zu sprechen, wie Gretchen das letzte Wort...
Auch Peer Gynt galt, wie Goethes Faust II, lange als unaufführbar. Erst als Ibsen Edvard Grieg bat, eine begleitend-kommentierende Bühnenmusik zu schreiben, wurde das nunmehr gemeinsame Stück 1876, neun Jahre nach seiner Entstehung, ein großer, bald auch internationaler Erfolg. Zum Leidwesen des Komponisten aber wurde die Musik bald nur noch verstümmelt eingesetzt und verschwand schließlich fast ganz von den Bühnen (um sich allerdings dann als Peer-Gynt-Suite die Konzerthäuser autonom zu erobern). Nach Recherchen der Cottbusser Dramaturgen (Thomas Spieckermann) hat es, zumal die Originalpartitur verschwunden war und erst 1988 wiederhergestellt und publiziert wurde, im deutschsprachigen Raum nie eine Inszenierung mit der vollständigen Bühnenmusik gegeben, weshalb das Staatstheater jetzt stolz von einer "deutschen Erstaufführung" sprechen darf. Und wenn man die Grieg´sche Musik nun ausführlich hört, vom Philharmonischen Orchester des Staatstheaters aufs Schönste zugleich romantisch und doch wie durchsichtig musiziert (Leitung: Reinhard Petersen), so möchte man keinen Takt von ihr missen.
Es ist, das muss man deutlich sagen, eine große Leistung, die ein kleines Theater hier zeigt: Alle seine Ressourcen und kreativen Energien hat das Dreispartenhaus in dieses "Gesamtkunstwerk" gesteckt: Von den systematischen Recherchen und der Textarbeit der Dramaturgie (zugrundegelegt wurde die deutsche Fassung von Peter Stein und Botho Strauß) über eine effiziente Bühnentechnik und die ebenso sorgfältig-aufwändigen wie die Handlung mitgestaltenden Kostüme (Susanne Suhr), bis hin zu Chor und Ballett, Orchester und Sängerinnen, und nicht zuletzt natürlich dem Schauspielensemble - der begeisterte Schlussapplaus des Premierenpublikums, das damit wohl auch den berechtigten Stolz auf sein Theater demonstrierte, galt einem Gemeinschaftswerk, wie es bei großen Häusern derzeit nur selten zu erleben ist.
Nächste Vorstellungen am 29. Oktober, 5., 16. und 24. November, jeweils 19.30 Uhr.
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