Endspiel Hamlet

SCHAUBÜHNE Peter Zadek inszeniert mit Shakespearescher Direktheit

Von Wollust, Mord, und unmenschlichen Taten, zufälligen Gerichten, blindem Töten, von Toden, durch List und falschen Grund bewirkt, und Plänen schließlich, die, verfehlt, aufs Haupt der Erfinder zurückgefallen sind,« handelt dieses berühmteste Drama der Weltliteratur, Karl Kraus hat diesen Epilog des Horatio in seinen legendären Rezitationsabenden während des Weltkrieges (und auch in den Letzten Tagen der Menschheit) immer wieder zitiert als Kommentar auf die »aus den Fugen geratene Zeit«, die wieder einzurenken Hamlet scheiterte. Trotz seines Scheiterns ist es Hamlet so wichtig, dass jemand überlebt, »um meine Geschichte zu erzählen«, dass er sterbend Horatio am solidarischen Selbstmord hindert: Angelika Winkler als Hamlet in Peter Zadeks Inszenierung macht das zusätzlich sichtbar, indem sie in einer letzten großen Kraftanstrengung den giftigen Trank verschüttet. Aber der Freund wird gleichwohl der ihm zugedachten Aufgabe nicht gewachsen sein - »Mehr Dinge gibt's im Himmel und auf Erden, Horatio, als deine Philosophie sich träumt«, hatte Hamlet ihm früher auf den Kopf zugesagt - und so, wie Klaus Pohl ihn gibt, als einen eher schüchternen jungen Mann in einem zu großen, schäbigen grauen Anzug, den Hut tief ins Gesicht gedrückt und eine altmodische Aktentasche ständig ängstlich an den Körper gepresst, wird er dem schutz- und hilfsbedürftigen Dänenprinzen, dieser anima pura in einer verrotteten Welt, nicht helfen können. Hamlet hat das Geheimnis seines Lebens mit sich in den Tod genommen.

Das Rätselraten und die Faszination, die von dieser Figur ausgehen, sind seitdem ungebrochen und nehmen bis heute eher zu als ab; Harold Bloom, der Papst der amerikanischen Literaturwissenschaft, stellte ihn kürzlich an die Seite des Jesus des Markus-Evangeliums und des Yahweh des Alten Testaments als göttlich verehrte literarische Schöpfungen: »der Christus der Intellektuellen«. Die Literatur-Titel zum Hamlet gehen in die Zehntausende, jede neue Inszenierung ist zumindest ein nationales Ereignis und kein großer Schauspieler, der an dieser Rolle vorbeikäme oder sie sich nicht insgeheim erträumte - obwohl, oder vielleicht weil Friedrich Schlegel zweifelte, »dass den Hamlet darzustellen ein Unternehmen für einen sterblichen Mann ist«. Denn Hamlet verstehen, hieße ja nichts weniger als den Menschen verstehen - weil das Rätsel, das Wunder, die Widersprüche von transzendierender Größe und schäbiger Banalität der Alltäglichkeiten, von Höhe subtilster Reflexion und blinder Verdummung durch Triebhaftigkeit, von Sprachgewalt und Sprachlosigkeit, Liebe und Hass, Freundschaft und Feindschaft, kurz: weil alles, was den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, in Hamlet nicht nur angelegt, sondern voll ausgebildet ist. Und er weiß es. Sein Bewußtsein reicht in Tiefen und Höhen, von denen Menschen häufig nur eine Ahnung haben. Sein Wissen um die »grauenhafte Wahrheit« unserer Existenz macht ihn handlungsunfähig, weil er sich nicht über deren letztliche Absurdität in die Tasche lügen kann - während »zum Handeln das Umschleiertsein durch die Illusion gehört«, wie Nietzsche die »Hamletlehre« sieht.

Nur eine Grenze kennt Hamlets Bewusstsein: Was kommt danach, was ist nach dem Tod? Hamlet ist ein Stück über dieses unlösbare und gleichzeitig zentrale Menschenthema überhaupt - über »das unentdeckte Land, aus dessen Grenze kein Reisender heimkehrt«. Um den Tod kreist das Innere des Dramas. Zwar scheint uns die äußere Handlung das Tor dorthin zu öffnen - der Geist von Hamlets ermordetem Vater kehrt aus dem Purgatorium zurück - aber, wie Zadek ihn überzeugend vorführt: es ist ein Gespenst, eine pathetische Figur und kein au thentischer Botschafter des Jenseits. Die Frage nach »Sein oder Nichtsein« bleibt unbeantwortet, weil wir über so viel Einbildungskraft der Möglichkeiten des Danach verfügen - Elisabeth Plessen übersetzt »conscience« sehr schön mit »Phantasie« (das unselige, aber sprichwörtlich gewordene »Gewissen« der Schlegelschen Übersetzung, das uns alle zu Feiglingen des Freitods macht, hatte die Sache im Deutschen immer verdeckt). Wenn Winkler diesen zurecht berühmtesten aller Monologe in einem fast kindlich-naiven Gesprächston mit dem Publikum teilt, nimmt sie ihm allen tiefsinnigen Bombast des Bedeutungsvollen, enttäuscht die stereotypen Erwartungen und zwingt gerade dadurch zu einem besonders intensiven Hinhören (was allerdings nicht ihren generell viel zu leisen Sprachton rechtfertigt).

Vor der Zentralität der Todesfrage tritt die Rachethematik, die ja dramaturgisch die eigentliche Handlung ausmacht und vorantreibt, ganz und gar zurück, auch und gerade in dieser Inszenierung. Zadek hat deren Bedeutung deutlich heruntergespielt - und natürlich auch Winkler als sein »idealer Hamlet«. Nur einmal sehen wir einen erregten, hasserfüllten Prinzen, dem man eine Bluttat, wie sie ihm aufgetragen wurde, auch zutraut. Aber als er sie schließlich vollbringt, da geschieht das eher beiläufig, fast wie der melancholische Nachtgedanke einer Armbewegung, ohne hinzusehen tötet er den König - und Winkler verzichtet absichtsvoll auf die (im Text vorgeschriebene) objektiv durchaus überflüssige Wuthandlung, dem schon Sterbenden auch noch den Gifttrank in die Kehle zu pressen. Was wir in dieser Aufführung erleben und über den Protagonisten vermittelt erfahren, ist die Demonstration ultimativer Sinnlosigkeit, in dieser korrupten Welt der politischen Klasse, repräsentiert von Claudius und seinem ersten Minister Polonius, durch Mitmachen auch nur irgend etwas zum Besseren hin ändern zu können, geschweige denn dort mit Wahrheits- und Sinnfragen auch nur entfernt verstanden zu werden. Hamlet ist im Hamlet ein Fremdkörper - und Hamlet ohne Hamlet wäre ein politisches Drama, in dem ein Claudius nicht nur nicht gerächt, sondern gar nicht erkannt würde - denn solcher politischer Mord gehört zum Geschäft, ist die Normalität, gestern, heute, an allen diesen »Höfen«.

König Claudius (Otto Sander) orientiert seine Figur an der eingeübten Maskerade zeitgenössischer Großpolitiker - auch bei den größten Lügen und Schweinereien nur nicht das Gesicht verziehen: Noch im Sterben spielt er diese Staatsrolle. »Man kann lächeln und lächeln und Verbrecher sein«, notiert sich Hamlet über seinen Onkel. Wie kann man da nicht an die Clintons, Blairs oder Schröders denken? Und doch bleibt auch da ein unaufgelöster menschlicher Rest: Wie Sander seine verbal behauptete Unfähigkeit zum Beten körpersprachlich so kommentiert, dass er den Atheisten in sich Lügen straft und unbewußt anerkennt, dass es da doch etwas Höheres gibt, vor dem er schuldig geworden ist - das ist ein schauspielerischer Höhepunkt; auch die Schurken wissen, was sie tun. - Gertrud hingegen (Eva Mattes), wird gezeigt als eine dumme Frau, die nichts versteht und dem Mörder ihres ersten Mannes vor allem sexuell ergeben ist. Sie hat nicht einmal Schuldgefühle - ist keine »Hillary Clinton«, ihr genügt die Bettgenossenschaft des Machtmenschen. Auch solche Figuren gehören zum politischen Hofpersonal. Aber das ist doch bedeutend weniger, als Shake speare ihr da mitgegeben hat.

Zadek inszeniert ein pessimistisches Beckettsches Endspiel. Seine Bühne besteht lediglich aus einem Container, der sich zwar nach vielen Seiten hin öffnen kann, aber selbst ein bedrückendes Symbol der Geschlossenheit und des Gefängnishaften dieser Politikwelt ist - »Dänemark ist ein Gefängnis« - was aber nur der innerlich Freie wahrnimmt, weil er allein an dessen Grenzen stößt: »das Denken macht es dazu«. Der Bühnenbildner Wilfried Minks übersetzt das in eine eindrucksvolle Bildsprache. Dieser Hamlet wird damit auch ein Endspiel im ästhetischen Sinne: Die moderne Gesellschaft hat unsere Welt zu einem großen Industrie-Slum herabgewirtschaftet, der gleich vor den Toren der Hauptstadt beginnt: Ophelia findet ihr Grab in einer Müllhalde, und die Totengräber müssen Desinfektionsmasken tragen. Die Menschen selbst bewegen sich in dieser kaputten Abfallwelt wie Schemen, sie erscheinen wie Marionetten in einem großen Vakuum, aufgezogene Puppen, die weit über die große Bühne verteilt (Zadek hat sich bemüht, diese wenigstens etwas zu verkleinern) umeinander herum und aneinander vorbeilaufend ihre Rollen sprechen: kalt ist die zwischenmenschliche Atmosphäre. Man sitzt auf zwei Stühlen - das wichtigste und fast einzige Requisit - und redet, ein jeder vor sich hin; auch darin Endspiel. Die psychisch zusammengebrochene Ophelia (Annett Renneberg) erscheint wie die bis zur Kenntlichkeit verzerrte Normalität dieser Gesellschaft, wie deren Wahrheitsspiegel, und verweigert sich - absichtlich? - der tragischen Poesie dieser schwierigen Rolle.

Das alles macht nicht gerade spannendes, großes, dramatisches Theater - Zadek hat solches anscheinend nicht gewollt. Es wird zwar viel Hin und Her gelaufen, aber das Tempo ist Adagio, nicht Allegro - allenfalls die Fechtszene, professionell einstudiert, ist ein brillantes Presto. Man muss diesen Hamlet mitdenken, ja, man muss ihn wohl gewissermaßen schon »vorherdenken«, ihn also lesen beziehungsweise gelesen haben, um zu ahnen, warum gerade diesem Stück die Krone der Dramenliteratur gegeben wird.

Was allerdings keine Lektüre vermittelt, und worin eines der besonderen Verdienste dieses Hamlet besteht, das ist die Entdeckung und von Zadeck betonte Inszenierung des witzigen, komischen, ironischen, sarkastischen Subtextes, den vor allem Polonius (Ulrich Wildgruber) voll ausspielt, oft allerdings bis an die Grenze des für seine Mitspieler kollegial Zulässigen, so dass das Stück bisweilen in Gefahr gerät, Polonius und nicht Hamlet zu heißen. Aber man darf viel und intelligent bei diesem Endspiel lachen und sich damit für die grau-düstere Welt der dramaturgischen Spannungslosigkeit entschädigen.

Und da ist natürlich dann dieser ungewöhnliche Hamlet. Nicht, dass er von einer Frau gespielt wird - das »vergisst« man sehr bald - sondern dass dies ein so jugendlich-kindlicher, ein geradezu naiv-fröhlicher Hamlet ist, den wir hier kennenlernen, und dass diese Interpretation der Rolle auch fast überall aufgeht, sie ihr nicht oktroyiert erscheint, sondern den Text auf eine ganz neue Art von innen zum Klingen bringt, das ist die Entdeckung dieser Aufführung (wofür Angelika Winkler wohl auch soeben zur »Schauspielerin des Jahres« ernannt wurde). Mann oder Frau - das ist im Hamlet gerade nicht die Frage: Indem hier die Transzendenz des Menschen thematisiert, ja provoziert wird, Hamlet also ein Spiegel ist, in den wir alle, Männer und Frauen gleichermaßen, schauen können, um Fragen nach den großen Unbekannten unserer Existenz zu reflektieren, kann und darf diese Figur eigentlich nur an drogyn sein, muss sie also auch als männlicher Prinz in jedem Falle zumindest feminine Züge enthalten, sonst wäre die Rolle verfehlt. Kein Sterblicher, so hatte Schlegel, wie zitiert, bemerkt, vermag den ganzen, den »wahren« Hamlet je zu verkörpern - jeder Schauspieler kann nur einige wenige, aber im Glücksfall dann ganz neue, unerwartete Dimensionen zeigen. Dass die Welt der großen korrupten Politik zerbrechen kann an einem naiv-reinen Jugendlichen, einem Kind geradezu von der ursprünglichen Unschuld eines Dostojewskischen Idioten, einem einzelnen Menschen, der nicht käuflich, nicht zynisch ist, der es nicht bei der bloßen Feststellung beläßt, dass »etwas faul im Staate« ist, sondern der, obwohl oder gerade weil extrem liebesbedürftig und wie hautlos verwundbar, obwohl oder gerade weil er so fröhlich ist und gerne lacht, in einer Welt der Heuchelei nicht leben will und kann und sie darum zum Offenbarungseid zwingt - das zeigt Angelika Winkler. Dass Hamlet in dieser Welt nicht leben kann, weil Sensibilität und Wahrheit von ihr erstickt werden, das ist ein bitteres Urteil über ihre geistig-moralische, und insbesondere ihre politische Verfassung. Undenkbar ein Hamlet »an der Macht«.

Hamlets Tragödie - und damit unsere Tragödie - setzt sich über seinen Tod hinaus als bittere Ironie fort: Das mühsam genug durch den neuen Gewaltherrscher Fortinbras restaurierte »System« wird sich auch noch der zerstörten Hoffnung Hamlet (so wie es mit Jesus geschah?) zynisch zur eigenen Stabilisierung bedienen, ihn mit militärischen Ehren begraben und wider besseres Wissen behaupten, er würde sich »sehr königlich bewährt« haben. Völlig unmotiviert - oder war es nur eine provokatorische Laune Zadeks? - den Fortinbras mit der Schauspielerin der Ophelia fehlzubesetzen, was stimmlich-sinnlich die erfolgte Restauration der patriarchalischen alten Ordnung unverständlich macht und einen finalen Missklang erzeugt. Der Staat, in dem nach den Regeln der Macht regiert wird, kann keinen Philosophen-König ertragen - so wie die christliche Kirche keinen lebenden Jesus.

Winkler und Zadek haben einmal mehr gezeigt, wie inkommensurabel dieser Hamlet ist und bleibt - ein Stachel, eine Provokation der fast vierhundertjährigen Moderne. Irgendwie kann man vermutlich am Hamlet nur scheitern: Hamlet ist zu groß für die Bühne und einen einmaligen Theaterabend, auch wenn der - bei nur relativ geringfügigen Kürzungen - fast dreieinhalb Stunden dauert.

Hamlet, Schaubühne am Lehniner Platz, bis 13. November 1999.

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