Ob Berlin sich drei Opernhäuser leisten kann und mit welcher finanziellen Ausstattung, das ist inzwischen ein gesamtdeutsches politisches Thema und als "Opernkrise" in aller Munde. Nicht nur deswegen wird nun jede neue Inszenierung zum Testfall für das jeweilige Haus, aber auch für die Existenzberechtigung der Gattung selbst. Am letzten Wochenende hatte Mozarts Zauberflöte Premiere an der Komischen Oper - man kann sie aber gleichzeitig bereits in der Staatsoper (seit 1994 in den historischen Kulissen Schinkels) sehen, und auch die Deutsche Oper hat sie (seit 1991) noch im Repertoire. Muss das sein? Wenn man Hans Neuenfels fragt, so ist die Antwort eindeutig: Ja, es musste sein.
Und es musste die Komische Oper sein, das traditionsreiche Haus des Revolutionärs der modernen Opernregie, Walter Felsenstein. Allerdings gehört schon eine erstaunliche Portion Arroganz dazu, gerade an diesem Ort und vor dem Hintergrund seines Erbes, zu dem nicht zuletzt eine legendäre Zauberflöte gehört, diese im Vorfeld "Schaumgebäck mit viel Marmelade zugeklebt" zu nennen und erstmals die Figuren zum Sprechen bringen zu wollen.
Nun traf es sich gut, dass ausgerechnet an eben diesem Wochenende die Komische Oper zusammen mit den Theaterwissenschaftlern der Freien Universität zu einem zweitägigen Kolloquium Realistisches Musiktheater - Geschichte, Erben, Gegenpositionen eingeladen hatte, in dessen Mittelpunkt die bahnbrechende Arbeit ihres Gründers stand, an der sich jede ernstzunehmende Opernregie bis heute messen muss. Es gibt kein Zurück vor Felsenstein, den Übervater des Musiktheaters, der nicht nur auf Textverständlichkeit und der neuen Figur des Schauspieler-Sängers bestand, sondern auch auf der Erarbeitung überzeugender Motivationen für jede singende Figur, für ihr Verhalten als Handelnde auf der Bühne, und eine nachvollziehbare Logik der erzählten Oper als Musikdrama. Das Kolloquium wurde mit den immer wieder an diesen hohen Ansprüchen gespiegelten Analysen politisch engagierter, "realistisch" arbeitender Regisseure - von Berghaus über Sellars bis zu Konwitschny - zum kleinen intellektuellen Glanzstück für die Komische Oper, die sich damit ihres großen Erbes im Kontext vergewisserte: Intendant Andreas Homoki formulierte eingangs sein darauf gegründetes Credo vom Primat des Theaters und der unbedingten psychologischen Glaubwürdigkeit der singenden Figuren. Zugleich meldete die KO damit aber auch ihr Selbstverständnis als maßstabsetzende Avantgarde lebendig-kontroversen Musiktheaters an. Nur wo Oper öffentlich diskutiert wird, beweist sie ihre Existenzberechtigung - wie etwas in Bietos Entführung, deren Analyse in der Diskussion unter anderem zu einer komplexen Einsicht führte: Das musikdramatische Werk in seiner Vieldimensionalität gibt es eigentlich nur in der realen Zeit seiner Aufführung, weil das mit- und re-agierende Publikum da eine unverzichtbare Rolle spielt - mit ihm verändert sich jede Aufführung und macht sie zu einer je einmaligen Erfahrung mit immer neuen emotionalen Facetten.
Mitten hinein in die gepflegten akademischen Diskussionen platzte dann die neue Zauberflöte. Ihr Beitrag zum Glanz der Komischen Oper liegt zweifellos in der Kontroverse, die sie sofort auslöste: Man stritt sich auf dem Premierenempfang und in vielen privaten Kreisen engagiert, leidenschaftlich und hochemotional über diese radikal anti-märchenhafte, brutal psychologisierende, um neue Figuren wie eine Spielleiterin (peinlich maniriert: Elisabeth Trissenaar) erweiterte Handlung, deren naiver Schikaneder-Text (Neuenfels: "ein ziemlich bescheuertes Libretto") streckenweise durch oft plump-primitiven Witz ersetzt wurde ("Papagehnur", der "fünf mal am Tag onaniert", was dem ebenso verklemmten "Bettnässer" Tamino zu einem begeisterten "Oh" hinreißt, usw.). Aber während man über die oft schwer, oft gar nicht, aber noch öfter grobschlächtigen szenischen Verweise (die Zauberflöte ein großer Penis, das Glockenspiel silberne Hodensäcke) sehr geteilter Meinung sein kann, liegt der eigentliche Skandal dieser Zauberflöten-Lesart im zeitgeistig Politischen. Mozart hatte bekanntlich hier erst- und einmalig eine Volks-Oper für das plebejische Vorstadtpublikum geschrieben. Neuenfels behauptet nun, in ihr eine deprimierende Tiefendimension entdeckt zu haben: Aufklärung, Humanismus, egalitäre Freimaurerei, die Perspektive einer sanften Revolution von oben, die dialektische Einheit gleichberechtigter Geschlechter durch Überwindung männlicher Vorurteile - kurz alles, wofür Mozarts aufklärerische Musikbotschaft steht und in Schikaneders etwas krausem Kunstmärchen mit gutem Grund einen relativ adäquaten Stoff gefunden hatte, um sich in ihr verkörpern zu können, das wird von ihm systematisch als falsch, verlogen, verklemmt, ja als Geisteskrankheit denunziert. Sarastro ist ein Krüppel im Rollstuhl, sein Volk besteht aus jubelnden Irren, seine Vernunft-Priester sind kastrierte blinde Lemuren, und alles, was die Aufklärung zustande gebracht hat, sind mit Rotwein und Baguettes zufriedengestellte infantile (französische) Revolutionäre, denen, während der kranke Herrscher am Herzschlag stirbt, die finale Sonne des Versprechens einer möglichen besseren Welt nichts bedeutet. Mozarts Musik sagt nicht nur da etwas ganz anderes - glücklicherweise.
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