Kühler Kopf, hitzige Sprache

In der Kälte des Theaters "Im Dickicht der Städte" an der Berliner Schaubühne belegt ein weiteres Mal, wie schwer sich das zeitgenössische Theater mit Brecht tut

Theater muss aufregend sein - oder es ist keines: Veranstaltung vielleicht, Kulturprogramm, Bildung im Abonnement, aber nicht Theater, die Bretter, die die Welt bedeuten, wo sich etwas ereignet zwischen Schauspielern und ihrem Publikum - von heftiger Ablehnung bis zu begeisterter Zustimmung. Nur Neutralität verträgt es nicht. Zu den Klischees der Brecht-Dogmatik gehört es, dass dieser den verfremdeten, den nüchternen Blick, den distanziert urteilenden Zuschauer gewollt habe.

Im Dickicht der Städte, derzeit in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz zu besichtigen, hat einen "Vorspruch", der das zu bekräftigen scheint: "... beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish." Aber der leidenschaftliche Theatermann Brecht wusste doch zugleich sehr wohl, dass es das Vergnügen und die Lust am Spiel sind, die dem Bühnengeschehen den Weg zu Vernunft und Erkenntnis freilegen. "An den Herrn im Parkett" einer Dickicht-Aufführung gerichtet schrieb er 1925: "Sie legen Wert darauf, an gewissen sinnlosen Begeisterungs- und Ermutigungsgefühlen beteiligt zu werden, die zum Spaß am Leben gehören. Alles in allem habe ich mein Augenmerk darauf zu richten, dass in meinem Theater Ihr Appetit gekräftigt wird." Die Schaubühnen-Inszenierung von Gregorz Jarzyna, einem vielfach erfolgreichen jungen politischen Regisseur, könnte nicht weiter davon entfernt sein, unseren geistig-sinnlichen Appetit zu kräftigen.

Das beginnt mit einer Entscheidung gegen die Sprache: Kein anderes Stück Brechts ist so betont und bewusst lyrisch geschrieben, wie dieses. Er hatte zu der Zeit intensiv Rimbaud gelesen und sich von ihm inspirieren lassen: Längere Passagen erscheinen als (scheinbare) Zitate im Text. Andere sind von einer expressionistischen Kraft, die Ihresgleichen sucht: "Jetzt paaren sich die Krebse, der Liebesschrei der Rothirsche ist im Dickicht, und der Dachs kann gejagt werden. Meine Flossen aber sind kalt und ich wickle die schwarzen Strümpfe ein mit Zeitungen ... Wenn sie jetzt in dem fettigen Schnapslogis herumliegt wie eine Gräte, wird sie nie mehr ein reines Hemde kriegen."

Man spürt - beim Lesen - geradezu physisch die leidenschaftliche Freude des Dichters Brecht an seiner eigenen Sprache und den Bildern, die er damit schuf: "Der Jangtse marterte die Dschunken. Die Dschunken marterten uns. Ein Mann trat uns, sooft er über die Ruderbank ging, das Gesicht platt. Nachts war man zu faul, das Gesicht wegzutun. Merkwürdigerweise war der Mann nie zu faul. Wir hinwieder hatten eine Katze zum Martern; die ersoff beim Schwimmenlernen, obwohl sie uns die Ratten vom Leib gefressen hatte." Sofern solche Passagen nicht überhaupt gestrichen wurden, waren sie an der Schaubühne einfach nicht mehr hörbar bei einem betont unterkühlten, geradezu zeitlupenartigen, blutleeren Sprechstil.

Von der fast unüberbrückbaren Diskrepanz zwischen lyrisch-expressionistischer Sprache voller poetischer Paradoxien und der Aufforderung, nüchtern und mit kühlem Kopf dem irrationalen Kampf zwischen zwei Männern im Dschungel der Großstadt Chicago, die auch Berlin heißen könnte, zu beobachten ("Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive"), von diesem Widerspruch bezieht dieses Stück seine Vitalität und Faszination. Nimmt man ihm, wie hier geschehen, die Kraft der Sprache, hat die szenische Handlung keine Bodenhaftung.

Die zweite gleichermaßen folgenreiche Entscheidung der Regie besteht darin, das städtische Dickicht zu durchleuchten, es aufzuhellen, es in die Moderne von Neonlicht und Diskofarbigkeit zu transportieren, die Menschen in durchsichtig miteinander verbundenen Stahlcontainern agieren zu lassen, und auch der gelegentliche Wolkenkratzer-Hintergrund hat nichts Dickichtes, nichts Unübersichtliches. Von den technischen Möglichkeiten der modernen Bühne verführt, trumpft der Regisseur (anscheinend ohne Rücksicht auf die Kosten) mit einem Aufwand an Mechanik und Bauten auf, der konterproduktiv auf das Stück zurückschlägt und das psychische Elend der in diesem entrümpelten Nicht-mehr-Dschungel agierenden Wohlstandsmenschen nur noch schwer sichtbar macht. Vor allem die dem Kampf zum Opfer fallenden Frauenfiguren (vorzüglich Jule Böwe als Marie, Anne Tismer als Jane und Imogen Kogge als Mutter) haben größte Schwierigkeiten, sich dagegen zu behaupten.

Es ist, als wolle die Regie durch die Übersichtlichkeit von Bühne und Personenführung dem Stück eine Handlungslogik implantieren, die Brecht ganz bewusst nicht wollte und deren Abwesenheit dessen eigentliche dramaturgische und dichterische Qualität ausmacht. "Ein gutes Stück braucht viele Untiefen, undurchsichtige Stellen, eine Menge Kies und erstaunlich viel Unvernunft", schrieb er damals. Jarzyna hat die Untiefen ausgebaggert, die undurchsichtigen Stellen ausgeleuchtet, den Kies beiseite geräumt und allein der Vernunft ihren Anteil belassen. Das macht zwar optisch einprägsame Bilder (besonders die japanischen Bildprojektionen), eine gelungene (wenn auch die Schauspieler meist im Dunklen lassende) Farbregie und eine Choreographie, der man die Arbeit und Intelligenz, die in sie einging, mit ästhetischem Gewinn ansieht - aber es macht kein lebendiges Theater und erzeugt über gut zwei Stunden blutleere Kälte im Publikum sowie einen herzlosen Schlussapplaus.

Wie schwer unsere Theater sich mit Brecht tun (und warum auch nicht: liegt er doch zurecht quer zur postmodernen Beliebigkeit) kann man gerade in dieser Spielzeit in Berlin studieren: Mutter Courage am Deutschen Theater, Die Mutter, Die Kleinbürgerhochzeit und Die Heilige Johanna der Schlachthöfe am Berliner Ensemble - letztere (siehe Freitag Nr. 38 vom 12.9.2003) mit Abstand die gelungenste, weil aufregendste dieser Inszenierungen: Brecht hat keine flachen Aktualisierungen nötig, und im Unterschied zum eiskalten Publikum des Dickicht gibt es hier immer wieder Szenenapplaus für die politischen und ökonomischen Wahrheiten - jedenfalls für die kleineren, die weniger schmerzhaften; die großen hingegen machen nachdenklich und betroffen. Brecht, wird hier - und im Unterschied etwa zu Zadeks Courage (siehe Freitag Nr. 25 vom 13.6.2003) - nicht zuletzt sprachlich ernst genommen. Diese Heilige Johanna ist großes, klassisches Drama im Shakespeare-Schiller´schen Blankvers - und es funktioniert. Denn was so häufig übersehen oder von der Theaterarbeit eher stiefmütterlich behandelt wird, ist die Tatsache, dass Brecht nicht nur "Stückeschreiber" sondern auch einer der großen Meister deutscher Sprache ist.

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