In der Fülle der Nachrufe auf Siegfried Unseld ging ein Aspekt unter, der, wie ich glaube, nicht nur für mich Verlag und Verleger wichtig und stimulierend gemacht hat: Die Verbindung von Wissenschaft und Poesie. Was heißt das? Unseld war nicht nur ein großer Goethe-Kenner und Goethe-Forscher, nicht nur hat er im Insel-Verlag die Tradition etabliert, dass jeder fünfunzwanzigste Band der "Insel-Taschenbücher" ein Goethe-Band ist, er hat vor allem auch versucht, als Verleger eine der größten goetheschen Zukunftshoffnungen mit inhaltlichem Leben zu erfüllen. "Nirgends wollte man zugeben", hatte Goethe zur Verteidigung seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeiten geschrieben, "daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten." Das war damals schon gegen den Zeitgeist: Das Suhrkamp-Programm 250 Jahre später war - und ist! - mit seinen beiden verlegerischen Säulen, der literarischen und der wissenschaftlichen, auch ein Projekt gegen den Zeitgeist von Spezialisierung und Trennung der "zwei Kulturen" (C.P.Snow). Die gerade in diesen Tagen so viel zitierte "Suhrkamp-Kultur" vereint eben diese beiden Dimensionen, die der Literatur und die der wissenschaftlichen, der akademischen Diskurse. Das ist noch weit davon entfernt, Goethes Erwartungen einzulösen, aber doch ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die wissenschaftlichen Suhrkamp-Texte erfüllen in der Regel den Anspruch der Lesbarkeit, sprachlicher Disziplin und allgemeiner Zugänglichkeit für den gebildeten Leser und wurden vom Verleger ebenso sorgfältig betreut, wie die seinem Herzen zweifellos näher stehenden Großen der deutschen Literatur. Unseld hat gerade die sozialwissenschaftliche Diskussion durch seine verlegerischen Ermutigungen entscheidend gefördert. Die inzwischen zur lebendigen Legende gewordene "Edition Suhrkamp", zuerst vom unvergessenen Günter Busch betreut, verkörpert diese alles andere als selbstverständliche Koexistenz aufs Glücklichste, finden wir doch hier Gedichtbände neben soziologischen Untersuchungen, Erzählungen neben außenpolitischen Analysen, Texte zur Theorie der politischen Ökonomie neben solchen zur Philosophie, und alles im Verein mit Beckett und Brecht, Celan, Walser oder Weiss.
Es ehrt und ermutigt einen Autor, wenn er - wie in meinem Falle - zum Erscheinen einer wissenschaftlich-essayistischen Arbeit vom vielbeschäftigen Verleger diesen Brief bekommt: "Ihr so wichtiges Buch Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart ist jetzt erschienen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, das Manuskript zu lesen, hoffe aber, daß ich sehr bald dazu kommen werde, mich mit Ihrem Buch eingehend zu beschäftigen. Ich weiß, daß ich das tun muß!" Es mag das durchaus ein freundschaftlicher Routinebrief gewesen sein ohne allzu wörtlich genommen werden zu wollen, aber eine solche Geste ist doch psychologisch förderlich und signalisiert Empathie und Interesse. Zur "Suhrkamp-Kultur" gehört nämlich auch Unselds kluge Weitsicht, die linke Generation der sechziger und siebziger Jahre als Leser so gut wie als Autoren in den bundesrepublikanischen Diskurs eingebunden zu haben. Heute sind sich die meisten Beobachter darüber einig, dass "68" das eigentliche Gründungsjahr einer demokratischen Gesellschaft in der Bundesrepublik gewesen ist. Dazu gehörte auch die produktive Integration zumindest einiger der schärfsten Kritiker bundesrepublikanischer Innen- und Außenpolitik auf dem Umweg über deren verlegerische Präsentation - Wolfgang Lefèvre, dessen Max Weber-Kritik von der Freien Universität Berlin als nicht promotionswürdig abgelehnt worden war, konnte ebenso in der "edition" erscheinen wie Horlemann/Gängs Analyse des Vietnamkrieges oder der Sammelband Der CDU-Staat - das war und bleibt eine nicht zu unterschätzende kulturpolitische Leistung.
Die Förderung kritischer Analyse in politischer Absicht hatte für Unseld bestimmt kein marktwirtschaftliches Motiv - diese Literatur war wohl oft eher ein Zuschussgeschäft - vielmehr war es eine Aufgabe, an die er ebenso glaubte, wie an die lebensspendende Kraft von Dichtung und Literatur. Man lese dazu die rührend-bewegende Rede über Hermann Hesse noch vom 23. Juni dieses Jahres, die mühelos den Bogen schlägt vom "11. September" zum "Sinn des Lebensrufes" dieses Dichters, dem er seit seiner Dissertation lebenslang und verlegerisch verbunden war. Aber er mischte sich zugleich ein ins Geschäft der politischen Kritik. Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland war eine von ihm 1992 persönlich angestoßene Frage an seine AutorInnen, und die Antworten gab er dann als Buch heraus. "Die geläufige Rede von der Krise ... gilt nicht für die intellektuelle, politische Debatte", konnte er dort als Fazit und nicht ohne selbstbewussten Stolz, als Verleger dazu beigetragen zu haben, feststellen. Ob und wie lange dieser Impuls noch gesellschaftlich lebendig bleibt, liegt auch an uns - der Verlag hat, garantiert durch die Figur Siegfried Unselds, einer ganzen Generation kritischer Wissenschaftler eine ungewöhnlich breite und für viele Jahre stabile Plattform geboten, die es jetzt zu bewahren und kreativ weiterzuentwickeln gilt.
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