Wie reagiert das Theater, das ein Ort gesellschaftlicher Reflexion sein will, auf die aktuellen Ereignisse und was sind die zeitgenössischen Varianten eines "politischen Theaters"? Diesen Fragen wird eine kleine Artikelserie nachgehen, deren Auftakt der Beitrag von Ekkehart Krippendorff bildet.
Der Ursprung dessen, was wir als "Politik" bezeichnen, hat seinen historischen Ort in der Polis Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Das griechische Theater hatte die Hybris der Macht und die Gefahren selbstzerstörerischer Blindheit der Regierenden zum zentralen Thema. Als die Verantwortlichen des Deutschen Theaters die Antigone des Sophokles an den Beginn der neuen Spielzeit 2001/02 setzten, konnten sie natürlich nicht wissen, dass zehn Tage vor der Premiere die erste große politische Wegscheide des neuen Jahrzehnts, der "11.September", markiert werden würde - aber vielleicht haben sie es irgendwie geahnt. Sophokles war ein Zeitgenosse des Perikles, der das stolze Athen damals in den katastrophalen Krieg mit Sparta führte. Vergeblich appelliert der greise Seher Teiresias an König Kreon, "den Verstand zu gebrauchen", - und das Programmheft hebt dessen verhärtete Antwort als programmatisches Leitwort hervor, als eine aus der Tiefe der Antike vermittelte Mahnung, es nicht so wie er zu machen: "Nachgeben ist schrecklich." Während Sophokles verhalten optimistisch mit dem Vertrauen auf die Lernfähigkeit auch noch der Alten schließt (in Hölderlins Übersetzung: "Großen Worten folgen große Schläge. Davon könnten auch noch die Ältesten lernen"), endet die sorgfältig gearbeitete Inszenierung von Peter Wittenberg mit einem subtil gesetzten Fragezeichen: "Große Worte lehren noch Greise" - Pause; dann mit nach oben gezogener Stimme - "die Einsicht"?
Was dieser Antigone gelingt, ist das Sichtbarmachen des öffentlichen Disputs, die Inszenierung einer dramatischen Konfrontation der Stand- und Gesichtspunkte vor dem zur Urteilsbildung aufgerufenen Volk, dem Chor. So möchte man sich - als Denkübung - die Konfrontation von Bush und bin Laden, diesen Zwillingsbrüdern des Fundamentalismus, vor dem Forum der Weltöffentlichkeit vorstellen. Wenn Kreon oder Antigone oder Haimon ihre Positionen überspitzen, verzerren sie ihre Stimme zum Schreien - und wer schreit, das teilt sich unmittelbar mit, hat Unrecht. Solange sie aber ihre einander ausschließenden Positionen vernünftig vertreten, darf der Chor feststellen: "Beide haben klug gesprochen." Die Wahrheit wird nur gewonnen durch den geduldigen Gebrauch der Vernunft im öffentlichen Disput. Indem Kreon das Gespräch abbricht, den abkürzenden Weg der autoritären Entscheidung wählt, bringt er Unheil über sich und den Staat - so wie Antigone im kompromisslosen Insistieren auf ihrem einsamen Beschluss, gesetzeswidrig den gefallenen Bruder zu bestatten, nicht nur sich selbst, sondern auch den Bräutigam und die eigene Mutter mit in den Tod reißt. Wenn Sophokles recht hat, wird die Kriegsentscheidung von Präsident Bush fatale Konsequenzen für die amerikanische Gesellschaftsverfassung haben, so wie bin Ladens Terrorismus die Sache des Islam aufs Schwerste beschädigt hat. Der Chor kann, wir, das demokratische Publikum, können da nur verzweifelt die Stimme der Vernunft erheben in der Hoffnung, dass die Mächtigen doch vielleicht letztlich lernfähig sein mögen.
Eher höflich-betreten verließen die Zuschauer dagegen sechs Wochen später die Premiere von Titus Andronicus. Hans Neuenfels wollte mit seiner Inszenierung den Einbruch des "Schreckens" in die Gesellschaft zeigen und wie "das Entsetzen, das etwas Unverständliches auslöst", unmittelbar in Gewalt umschlagen kann. In keinem der späteren Stücke Shakespeares wird so zahlreich gemordet, gefoltert und verstümmelt wie hier: Die politische Klasse einer konkurrenzlosen Weltmacht (Rom) wird zersetzt durch die aus der Peripherie bereits bis ins Zentrum der Herrschaft vorgedrungenen Völker aus anderen Kulturen (die Goten); sie zerstört sich schließlich selbst durch den blutigen Zynismus, mit dem sie ihre äußeren Gegner (die gefangenen Goten) zur eigenen Machterhaltung glaubte instrumentalisiert zu haben; am Ende triumphiert selbst noch über seine Exekution und die äußerlich wiederhergestellte Ordnung hinaus ein weiterer Fremder, ein Schwarzafrikaner. Könnte es eine trotz aller Grobschlächtigkeit treffendere Parabel geben für die düstere Zukunft der westlichen Welt und ihrer Supermacht nach jenem inzwischen zum "Wort des Jahres 2001" avancierten 11. September?
Wenn Shakespeare die Dynamik imperialen Zerfalls richtig erkannt hat, dann wäre das, wofür jenes Datum steht, die legendäre Schrift an der Wand der Weltmacht. Neuenfels hat das Politische des Stückes in dieser Perspektive nicht interessiert - aber eine andere gleichwohl nicht anzubieten. Die eigenen programmatischen Erklärungen - "dass Gewalt die tiefste Verweigerung von Zärtlichkeit ist" - werden auf der Bühne mitnichten eingelöst. Den geheimen Drahtzieher der grausigen Taten, den ebenso intelligenten wie verschlagenen, boshaft-komischen wie menschlich fühlenden Mohr Aaron (Ingo Hülsmann) präsentiert Neuenfels als eine Art Spiderman und nimmt damit dem Stück die dramaturgische Achse. Aus der Parabel wird eine Farce, aus einer so bedeutungsschweren Szene wie der von der erschlagenen Fliege inmitten der erschlagenen Menschen eine unfreiwillige Lachnummer.
Obwohl das traumatische Datum nur beiläufig erwähnt wird, gehört es in Lars Noréns im Dezember uraufgeführten Tristano (nach Lenni Tristano, dem amerikanischen Jazzmusiker genannt) zur theatralischen Gegenwart. Der Ort ist Stockholm, die Zeit September - aber diese Gegenwart ist bereits die Vergangenheit der Protagonisten: Schauplatz ist die grau-klassizistische Aussegnungshalle eines Krematoriums, Asche fliegt umher und die Charaktere sind, bis auf einen, Tote. Sie erinnern sich - und erinnern sich wiederum nicht - an den letzten Sommerurlaub, an die Fahrt durch Deutschland, an einen Besuch in Bergen-Belsen, an ihre Berufe. Alles - Leben, Beziehungen, Beruf - erscheint ihnen aber so belanglos, dass es gerade noch als Material zum Party-Small Talk taugt, und ist doch Stückwerk unerfüllt gebliebener, auch durch den Tod nicht erlöster Leben. Fünf der sechs, die sich da zum Gespräch zusammengefunden haben, sind Juden, und ihr Unbehaustsein, auch noch im sicheren Schweden, macht den Grundtenor dieses intensiven Spiels im Spiel der Lebenden, die Tote darstellen, aus. Aus dem Alptraum des 20. Jahrhunderts wurde nichts gelernt: An die Reihe von Gulag, Prag 1968, Ost-Timor, Kosovo, Mazedonien - jeweils das Letztmiterlebte der Toten - schließt sich das Massaker vom World Trade Center bruchlos an, und der einzige Lebende unter den drei toten Paaren leidet, gedächtnisunfähig, unter völliger Identitätstörung: Sind nicht auch wir, die Über-Lebenden, kollektiv krank, weil wir die Fähigkeit der Erinnerung verloren oder haben verkümmern lassen? Im derzeit ständig zitierten "Kampf der Kulturen" spielt das historische Gedächtnis - oder dessen tiefenkulturelle Abwesenheit im säkularisierten christlichen Westen - eine bisher nicht bedachte Rolle der Differenz zwischen Kulturen mit und ohne Langzeitbewußtsein.
Lars Norén hat selbst als Patient der Psychiatrie unsere Gesellschaft nicht nur von innen, sondern auch von unten zu sehen bekommen. Der 11. September hat ihn anscheinend wenig überrascht: Hinter den im Party-Konversationsstil aufgezählten politischen Ungeheuerlichkeiten des soeben vergangenen Jahrhunderts verbirgt sich die Vermutung von einer furchtbaren Kontinuität jenes Bösen, das mit dem Holocaust losgetreten wurde und alles andere als historisch erledigt ist.
Wie in der Antigone haben wir es mit einem Theaterereignis zu tun, das zugleich Nähe und Distanz zu den Tagesereignissen schafft, sie auf einer Ebene zur Sprache bringt und zur Diskussion stellt, die dem politisch-analytischen Diskurs unzugänglich ist. Die Verstörung, mit der wir entlassen werden, liegt in der Sache; sie aufzulösen bedarf es des eigenen, des gemeinsamen Nachdenkens.
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