Natürlich war das Renaissance-Theater ausverkauft und überfüllt für die "Berliner Lektion" des - wie er angekündigt wurde - "amerikanisch-palästinensischen Kulturwissenschaftlers" zum Thema Das moralische und intellektuelle Dilemma der palästinensischen Frage. Eine Lektion, wie man sie hierzulande nicht oft zu hören bekommt, denn wer erzählt schon uns im Westen und besonders in Deutschland mit glaubwürdiger Authentizität und wissenschaftlicher Autorität die palästinensische Geschichte dieses tragischen Konfliktes, über den man nicht oft und ausführlich genug hören und lesen kann?
Edward Said kann das mit Eleganz und Engagement; man nimmt es ihm ab, dass er aufgrund seiner Biographie und privilegierten Position als Professor der berühmten Columbia University die Rolle des glaubwürdigen Sprechers für die Erniedrigten und Unterlegenen übernommen hat. Eben weil er mit einem liberalen westlichen Aufklärungsbürgertum kommunizieren kann, weil er dessen Sprache spricht, dessen Erwartungen kennt und bedient. So konnte es gar nicht anders sein, als dass er - politically correct - Applaus bekam für seine deutlichen Worte über die katastrophale Politik der Regierung Scharon, für den - nicht mehr sehr originellen - Verweis auf die Holocaust-Verantwortung der Europäer und Deutschen und die Suche der verfolgten Juden nach einer sicheren Heimstatt. Eine Suche, die vor allem zu Lasten der Palästinenser ging. Auch als Said die israelische Diskriminierung der arabischen "Mitbürger" als rassistisch geißelte, traf er auf die Zustimmung des Auditoriums.
So weit, so gut - wie sollte man, warum sollte man ihm da widersprechen? Er hat ja recht - und wenn auch einigen manches von dem, was Said vortrug, noch immer unbekannt gewesen sein sollte, es musste gesagt werden: die Wiederholung ist das Medium der Wahrheit. Aber welches sind die Lektionen? Was nützt es, an ein sonntäglich gestimmtes Bildungsbürgertum in einem schönen Theaterraum zu appellieren, man müsse zurückkehren zur Verhandlungsposition von Madrid, die UN-Resolutionen über Israels illegale Besatzung endlich durchsetzen. Europa sollte seine Mitverantwortung für den Israel-Palästina-Konflikt anerkennen und sich einschalten. Israel müsse sich aus den okkupierten Gebieten zurückziehen - alles nachvollziehbare Forderungen. Aber gestellt an wen? Umzusetzen von wem? Von 500 kritisch-wohlmeinenden deutschen Theaterbesuchern? Sind sie "Europa"? Können sie eine zweite Madrider Konferenz einberufen? Oder den israelischen Truppen einen Rückzugsbefehl erteilen?
Die Fragen klingen absurd, doch sie sind nicht weniger absurd als die Diskursebene, auf der tagtäglich und überall Außenpolitisches verhandelt wird. Said sprach ja nicht vor dem Europaparlament oder der Europäischen Kommission oder dem Bundeskabinett. Dort mögen derartige Forderungen sinnvoll adressiert sein. Nein, er sprach vor mehr oder minder einfachen Leuten, die nicht zur politischen Klasse dieser Gesellschaft gehören. Aber was können die konkret mit dem zitierten Appell anfangen? Sie können applaudieren in der Gewissheit, dass ihr Applaus völlig steril, weil ohne Konsequenzen ist. Auch Said weiß im Grunde, dass sein Aufruf letztlich ins Leere läuft, weil er vor den Falschen spricht. Er spricht zwar ihre Sprache, aber er spricht sie nicht an, fordert sie nicht.
Kann er das überhaupt? Natürlich - aber dazu bedürfte es eines anderen Redens, Denkens und Tuns bei dem, was wir "Außenpolitik" nennen. Said hätte die Anwesenden auffordern können, unterhalb der katastrophalen Ebene unserer jeweiligen Regierungen - ob deutsch, israelisch oder palästinensisch - aktiv zu werden, Verbindungen herzustellen oder auszubauen: etwa zu israelischen und palästinensischen Bürgerrechtsgruppen, zur "Zivilgesellschaft", die gerade jetzt Ermutigung braucht. Da wäre nahezu für jeden Einzelnen aus diesem Matinee-Publikum etwas zu tun. Said hätte gewiss Adressen beibringen können. Und er hätte auch sagen können und müssen, dass es eine unwiderlegbare Wahrheit und Konsequenz gerade aus den jüngsten palästinensischen Anschlägen in Jerusalem und Haifa gibt: die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, von Rache und Vergeltung dreht sich so lange mit furchtbarer Folgerichtigkeit weiter, bis wenigstens eine Seite sagt: Schluss! Nur absolut gewaltfrei - "pazifistisch" - sind unsere Konflikte zu lösen: Zurück zum Beispiel der Philosophie des "Ich und Du" von Martin Buber, der in einer Anerkennung palästinensischer Identität die unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit einer kreativen Zukunft für Israel sah. Dass die unbedingt pazifistische Haltung auch und nicht zuletzt in Deutschland praktiziert werden kann und muss, dazu könnte die 45-köpfige parlamentarische Anti-Kriegsfraktion aus PDS und Grünen gestärkt werden. Dazu könnte es im Anschluss an eine solche Veranstaltung 500 Briefe geben, in denen steht: "Verwirklicht den Koalitionsvertrag - stellt ein deutsches Friedenskorps auf, das in Israel und Palästina praktische Vermittlung anbietet!"
Tatsächlich aber ist unser außenpolitisches Denken krank - pathologisch durch intellektuelle Einübung in Abstraktion: "Europa muss eine Rolle spielen zur Verwirklichung der Vision von der Gleichheit zwischen Palästinensern und Israelis" - so die "Lektion" Saids. Man applaudiert zustimmend und begibt sich in ein Charlottenburger Schickeria-Restaurant im Westen Berlins - nichts wird sich tun, nichts wird getan, weil man so auch nichts tun kann und nichts zu tun braucht.
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