Wandel Fester Spielort statt Wanderkompanie, Erzählung statt Nummernrevue: Langsam, aber sicher etabliert sich der zeitgenössische Zirkus als eigene Sparte
Sehr cooler Trick: Akrobatik lockt neue Zuschauer an und gilt darum als Rampe in die Hochkultur
Foto: Baldemar Bottini, Lidia Rebollar
Artisten in der Zirkuskuppel, schwerelos. Auf dem Hochseil oder am Trapez. Von Trommelwirbeln begleitet setzen sie zum nächsten akrobatischen Höhepunkt an, heben ab – „aah!“ –, fliegen und landen sicher. Tusch. Applaus! Mit Erinnerungen an sensationelle Körperkunst unter dem Zelthimmel sind vermutlich viele von uns aufgewachsen. Zirkus gehört seit dem 19. Jahrhundert zu den westeuropäischen Erlebnis-Institutionen, deren Angebote im kollektiven Gedächtnis tief verankert sind.
Ausgebildet an Hochschulen
„Trapez, Pferd und Clown werden immer als Erste genannt, dann das Zelt“, zählt Tim Behren vom Circus Dance Festival Köln die zentralen, vertrauten Elemente des traditionellen Zirkus auf. Zirkus im Zelt als nomadisches W
t als nomadisches Wanderunternehmen beruht auf einem sehr spezifischen ökonomischen Modell. Meist ist es getragen von einer Familie, die das Unternehmen seit mehreren Generationen führt, wie beim Circus Krone. Oder es ist rund um eine zentrale Figur organisiert, die wie ein Impresario die Geschäfte steuert – Bernhard Paul etwa, der 1975 mit André Heller den Circus Roncalli gründete. Ihr Nummern-Programm zeigen die umherreisenden Zirkusunternehmen an verschiedenen Orten, so erwirtschaften sie ihre Einnahmen.Anders ist das im zeitgenössischen Zirkus. Diese neue Kunstform, die mit dem bundesweiten Festival Zeit für Zirkus vor Kurzem wieder ans breite Publikum herangetragen wurde, ist eigentlich auch schon einige Jahrzehnte alt, hat sich in Deutschland aber erst in den vergangenen Jahren etabliert. Sie markiert eine fundamentale Umwälzung im Selbstverständnis und Auftreten der Zirkusschaffenden. Akrobat:innen und Artist:innen sind nicht mehr Angestellte eines Zirkus oder Auftragnehmer:innen von Varietés und Showbühnen – sondern Künstler:innen und Autor:innen ihrer eigenen Werke. Ausgebildet werden sie schon länger nicht mehr in den Zirkusfamilien im Lehrer-Schüler-Prinzip, sondern an Hochschulen mit spezialisierten Studiengängen. Sie verstehen sich als kreativ und schöpferisch tätig und erproben Erzählweisen, die aus anderen Kunstformen wie dem Theater, dem Tanz oder der Performance stammen. Ihre Kreationen, erklärt Tim Behren, orientieren sich nicht mehr am klassischen „babylonischen Aufbau“ der Nummernfolge, bei dem der schwierigste Trick am Schluss ausgeführt wird. Im zeitgenössischen Zirkus ist eher der Erzählbogen von Interesse, ihm ordnen sich die Kunststücke unter. Das heißt, die Zirkusdisziplinen – Jonglage, Akrobatik oder Trapez – dienen als Mittel, eine Erzählung zu transportieren, und sind kein Selbstzweck mehr.„Von der Nummernform geht es zu abendfüllenden Stücken“, so fasst Tim Behren es zusammen. Das ist auch den großen internationalen Festivals in Deutschland nicht entgangen: Die Ruhrfestspiele haben seit 2018 eine Sektion für Zirkus, das Berliner Festival Tanz im August zeigt schon lange Kooperationen zwischen Choreograf:innen und Zirkusautor:innen, wie sie in Frankreich oder den Benelux-Staaten seit Jahrzehnten gängig sind.Sichtbarer in der Corona-ZeitAnke Politz hat am Chamäleon Berlin den Wandel im Zirkus von Nahem mitverfolgt und ihn gestaltet. Auch sie sagt: „Es geht nicht mehr nur um das Erlebnis der Spannung und das Bestaunen einer virtuosen Höchstleistung. Der Fokus liegt auch auf Inhaltlichem.“ Das von ihr geleitete vormalige Varietétheater hat sich auf den zeitgenössischen Zirkus spezialisiert. Für die konsequente Unterstützung der Künstler:innen wurde es dieses Jahr mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet – als „Speerspitze einer dynamischen Entwicklung der Darstellenden Künste“, wie es in der Jurybegründung heißt. 100.000 Euro stehen dem Haus damit für die Weiterentwicklung der Sparte zur Verfügung.BeiZeit für Zirkus zeigte das Chamäleon den Zwischenstand einer Arbeit, die in einer der hausinternen Residenzen entsteht: Tobias Dohm testete mit dem Publikum eine Vorversion seiner Jonglage-Installation „Spacetime“. In einem Gespräch mit dem Publikum holte sich der Performer Feedback, im geschützten Rahmen, wie Anke Politz betont: „Das ist eine Tiefe an Begegnung und Publikumspartizipation, die wir erst seit einigen Jahren praktizieren.“Hier liegt vielleicht einer der größeren Unterschiede zu Theater, Tanz oder Performance an den öffentlich geförderten Kulturinstitutionen: Die Zirkus-Künstler:innen, geschult an den Reaktionen ihrer Besucher:innen, haben einen sehr direkten Draht zum Publikum.Beim Berlin Circus Festival, das neben Tim Behrens Circus Dance Festival in Köln und dem Atoll Festival in Karlsruhe eines der drei Leuchtturmfestivals für den zeitgenössischen Zirkus in Deutschland ist, finden die Veranstaltungen nach wie vor im Zelt statt, die Zuschauer:innen sitzen rund um die Manege. Auf dem Gelände ist zudem alles handgemacht: Die Organisator:innen errichten Zelte und Gastrostände auf dem Tempelhofer Feld, und die Künstler:innen kümmern sich ohnehin selbst um ihre Geräte.„Der Erstkontakt ist im zeitgenössischen Zirkus leichter möglich als bei anderen Kunstformen“, sagt denn auch Johannes Hillinger, einer der beiden Leiter des Berlin Circus Festival. „Die Publikumswahrnehmung von zeitgenössischem Zirkus ist die einer innovativen, ein bisschen andersartigen Sparte, die sehr nahbar agiert“, formuliert es Tim Behren, der das Circus Dance Festival in Köln bewusst spartenübergreifend gegründet hat. Und Anke Politz sieht den zeitgenössischen Zirkus als „eine gute Einstiegskunst für Menschen, die eher Vorbehalte haben, in ein Theater zu gehen“. Ein Zelt, der öffentliche Raum oder eine freie Spielstätte wirken zugänglicher, lockerer, wie sie sagt: „Wir bringen ein Publikum, das sich öffnen möchte, in Kontakt mit den Darstellenden Künsten.“Der zeitgenössische Zirkus präsentiert sich in diesen Aussagen als eine Art Rampe in die Hochkultur. Beruhigend klingen soll das, denn mit Theater und Tanz steht er zunehmend in finanzieller Konkurrenz: Verdienen die umherreisenden Zirkusunternehmen ihr Geld mit den Einnahmen an der Kasse, entsteht zeitgenössischer Zirkus zunehmend mit öffentlicher Förderung. Das Circus Dance Festival ist 2019 im Rahmen des Förderprogramms Tanzpakt Stadt-Land-Bund entstanden. Das Berlin Circus Festival erhält Landesgelder. Und Zeit für Zirkus, das die Idee der französischen Nuit du Cirque importiert und erst Mitte November wieder in mittlerweile zwölf Städten für eine breitere Wahrnehmung des zeitgenössischen Zirkus warb, konnte 2023 mit der Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds stattfinden.Die öffentliche Förderung für zeitgenössischen Zirkus ist eine sehr neue Entwicklung: In den Neustart-Kultur-Programmen der Bundesregierung während der Corona-Pandemie wurde der zeitgenössische Zirkus erstmals breit gefördert, mit Stipendien für Künstler:innen, Unterstützung für einzelne Projekte und der zeitlich begrenzten Finanzierung von bislang ehrenamtlich geleisteter Netzwerkarbeit. „Das wirkte wie ein Ventil, das sich öffnet: Zum ersten Mal konnten Künstler:innen unserer Branche sich auf strukturelle Fördermittel bewerben“, sagt Anke Politz vom Chamäleon Theater. Sie ist ehrenamtlich als Zweite Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus, kurz BUZZ, tätig. Aus der Corona-Zeit ist der 2011 gegründete Verband gestärkt hervorgegangen: „Die Kunstform hat eine ganz enorme Sichtbarkeit erreicht.“ Gekrönt wurden die Bemühungen um Anerkennung im Oktober mit dem bereits erwähnten Theaterpreis des Bundes für das Chamäleon in der Kategorie „Privattheater und Gastspielhäuser“. „Vor einigen Jahren mussten wir noch diskutieren, ob eine zeitgenössische Zirkusperformance in einem Theater stattfinden kann“, sagt Anke Politz. Mit den Zeiten ändern sich auch traditionsreiche Institutionen und erneuern sich die Künste. Was bleibt, ist das Faszinosum der scheinbar schwerelos schwebenden Artist:innen.
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