MIT PORTUGAL IST SCHLUSS Lobo Antunes spiegelt in der argentinische Tango-Legende Carlos Gardel die Modernisierungsverluste in seiner iberischen Heimat
Als der argentinische Tangostar Carlos Gardel am 24. Juni 1935 im kolumbianischen Medellín bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, bedeutete das für viele das Ende des Tangos. Hunderttausende begleiteten den Sarg in Buenos Aires, bis heute pilgern Fans zu seinem Grab. Carlos Gardel, der zu Lebzeiten "die Stimme", "die Amsel", "der Zauberer" und nach seinem Tod "der Stumme" genannt wurde, gilt als Schlüsselfigur des Tango. Die Kunst wurde einmal sehr treffend als "trauriger Gedanke, den man tanzen kann" bezeichnet. Heute ist der Tango argentino allenfalls etwas für Touristen und in kleinem Umfang Exportprodukt. Was veranlasst also den erfolgreichen portugiesischen Erzähler Antonio Lobo Antunes einen Roman mit dem Titel Der Tod des Carlos Gardel vorzulegen? Vor zwei
en? Vor zwei Jahren präsentierte der spanische Filmregisseur Carlos Saura mit Tango eine Hommage an das Genre. In dem beim Publikum beliebten Film ging es um die Geschichte des Tango und seine Bedeutung für die Gegenwart. Sauras Film versuchte die vergangene Gefühlswelt des Tango in Bilder zu fassen seine Ausdrucksmöglichkeit, die Kunst, Poesie und Ästhetik des Tango in die heutige Zeit zu übertragen. Wird Tango auch bei Lobo Antunes zum Gegenstand und Vehikel, um über die großen Tangothemen Liebe und Tod, Eifersucht, Hass, Verlust, Glück, Sehnsucht, Vergänglichkeit, Sexualität, Erotik und Schönheit zu schreiben?"Jahrelang war mein Vater für mich nicht mein Vater, er war eine Stimme, die aus den Lautsprechern kam und alles aufhob, alles auslöschte, alles zerstörte, eine Stimme, die verstummte und wieder begann und wieder verstummte, mein Vater war kein Mann, er war ein Klavier, das klagte und eine Sekunde lang sah ich das Weiß seiner Augen, sah seine Zähne er nahm eine Platte aus der Hülle, drückte auf den Knopf und die Stimme von Carlos Gardel begann leise zu singen". Diese Erinnerung an die Kindheit begleitet Nuno, den drogenabhängigen Jungen, kurz vor seinem Tod im Krankenhaus: "Mein Vater, als würde er singen, als hätte er das Haar von Carlos Gardel in seinem Haar, den Blick von Carlos Gardel in seinem Blick, das Lächeln von Carlos Gardel in seinem Lächeln und ich war nicht im Krankenhaus, ich war in der Wohnung wir lebten alle drei in derselben Wohnung und ich hatte damals die Gewissheit, dass es immer so sein würde, meine Mutter, mein Vater und ich". Lobo Antunes erzählt eine Familien- und Liebesbeziehungsgeschichte im nachrevolutionären Portugal. Für jede der Figuren spielt Carlos Gardel eine besondere Rolle. Für den Jungen, Nuno, verschmelzen der Vater und der Tangosänger zu einem Gesicht und einer Stimme. Gardel steht für den Teil der Kindheit als die Familie noch intakt ist. Für den Vater, Besitzer einer kleinen Werbeagentur für Damenwäsche und Joghurt wird Gardel nicht nur zur Identifikationsfigur er wird zur Obsession: Er verlässt seine Frau, weil sie keine Tangos mehr hören kann und er hält einen alten Tangotänzer aus dem Vorstadtvarieté für den echten Gardel. Beglückt und in seinem Glauben an die Unsterblichkeit Gardels, begleitet er den arbeitslosen Doppelgänger wochenlang quer durch die Vororte Lissabons. Es sind die Viertel in denen heute ungefähr 14 Prozent der afrikanischen Bevölkerung Lissabons lebenWie in allen seinen bisherigen Romanen liefert der Autor genaue Beschreibungen vom alltäglichen Leben kleiner Leute und Randexistenzen. Er lässt in Dialogen von den kleinen Ereignissen des Lebens, der Atmosphäre des Privaten, in Küchen, Wohn- und Schlafzimmern. Die Blicke von Balkonen mit Blick auf Müllhalden oder das Meer, auf den Hafen, das öffentliche Leben an Straßenecken, in Bussen und Straßenbahnen, im Krankenhaus und Altenheim werden von innen gegeben. Die Stimmen von Männern und Frauen von drei Generationen sprechen von dem, was von der offiziellen Geschichte ausgelassen wird. Lobo Antunes Interesse richtet sich auf das, was mit dem schubartig sich modernisierden Lissabon seit der Eingliederung in die Europäische Gemeinschaft passiert ist. Er zeichnet ein Bild der Zerstörung, es ertönt eine verbitterte bisweilen aggressive Erzählerstimme. Lobo Antunes schreibt an gegen das, was aus seiner Heimatstadt im Zuge der rasanten Modernisierung, dem von Zerstörung gefressenen Leben seines Lissabon geworden ist. "Haben Sie den Zitronenbaum gefällt, haben sie den Trog zum Wäschewaschen herausgerissen...auch der Frisör, der Pfandleiher sind verschwunden, von der Avenida Grao Vasco sind nur die Maulbeerbäume geblieben, doch man hörte das Kreischen der Pfauen und der Störche nicht mehr...statt dessen ein neues Stadtviertel mit unendlich vielen Autos und Leuten, wir erkannten nichts mehr wieder...mit Portugal ist Schluß".In den von Nostalgie getragenen Beschreibungen wird eine alarmierende Gegenwartsdiagnose vom Land geliefert. Doch setzt Lobo Antunes die Stimme und den Körper Carlos Gardels nicht als beliebiges Mittel für Klagen über Vergänglichkeit ein oder um die Sehnsucht nach der guten alten Zeit auszudrücken. Gardel fungiert nicht als Projektionsfläche für große Gefühle, Weltschmerz, Melancholie. Stimme und Körper Gardels verweisen - wie die meisten Tangotexte - auf konkrete Verluste im Alltag: das Verschwinden eines einstmals schönen Stadtviertels durch Straßenbau und Mietskasernen, das Verbauen des Ausblicks auf den Hafen mit Fischerboten, einen Strand mit Seevögeln und damit das Schwinden von Lebensqualität, die Trauer des Jungen um den Verlust des Vaters, der Familie.Antonio Lobo Antunes weiß, worüber er schreibt, über Jahre hat er als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Lissabon gearbeitet. In einem seiner frühen Romane Die Vögel kommen zurück von 1981 (deutsch 1989) schreibt er die Chronik eines Selbstmörders. Seine damals unverhohlene Kritik an bürgerlichen Intellektuellen und politischen Mitstreitern, sein unkonventioneller Gebrauch von Umgangssprache, brachte Lobo Antunes massive Ablehnung von Seiten der portugiesischen Kulturelite. Vertreter der dogmatischen Linken - während der Salazar-Dikatatur war Lobo Antunes Mitglied der KP im Untergrund - erhoben den Vorwurf, seine Romane seien unpolitisch, eine kleinbürgerlich Nabelschau. Es handelte sich damals wie jetzt um psychologisch fundierte Studien, die tragische Biographien, von Tod und Krankheit, Trennungen und unerfülltem Leben erzählen. Aber wenn Tschechov Recht hatte, zu sagen, dass große Kunst nie deprimierend ist, dann lässt sich das mit Lobo Antunes Romanen bezeugen.Im Unterschied zu früheren Romanen, die auch Gegenwartsanalysen lieferten, findet sich in Der Tod des Carlos Gardel wenig sarkastische Kritik, kein Zynismus. Antunes Groll der siebziger und achtziger Jahre ist vorbei, wenn auch die Schärfe der Kritik, insbesondere am spätkolonialistischen Bewusstsein in nichts nachgelassen hat. Seinem Selbstverständnis nach ist es die Aufgabe des Schriftstellers, die Sprache zu erneuern. "Das ist es worauf ich Wert lege, wodurch meine Bücher überzeugen müssen". Über die portugiesische Literatur bemerkte er Anfang der 80er Jahre: "Die portugiesische Literatur war eingeschlafen. Das hat sich jetzt geändert." Genau das scheint der internationale Literaturbetrieb in jüngster Zeit auch bemerkt zu haben. Nach dem Nobelpreis für den portugiesischen Autor Jose Saramago 1998 kann man mit Antunes Roman wieder einmal entdecken, dass Portugal zur Zeit mit den besten Autoren und Autorinnen der Weltliteratur aufwartet.Lobo Antunes: Der Tod des Carlos Gardel. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand-Literaturverlag, München 2000, 444 S., 48,- DM
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