Europas Kulturgeschichte der Moderne wäre ohne die Erfindung der drei mythischen Gestalten Hamlet, Don Juan und Faust nur schwer denkbar. Sie verkörpern die Obsessionen, Wünsche und Ängste, stifteten Gemeinschaft und trugen wesentlich zum Selbstbild und Fremdbild Europas bei. Andere herausragende mythische Helden wie Prospero (die Hauptfigur in Shakespeares Sturm) oder historische Figuren wie Iwan der Schreckliche haben ihren festen Platz im kollektiven Unbewussten, sind aber vergleichsweise unbedeutend. Das gilt auch für Versuche in den dreißiger Jahren, Tyrannen wie Hitler oder Stalin mythische Wirkung zuzuschreiben, was sich nicht so recht durchsetzte. Lateinamerika ist damit hervorgetreten, die genuin-mythische Gestalt des Diktators zu erfinden. Gleichzeit
Der Schwanz des Wohltäters
ARCHETYPUS DES DIKTATORS In seinem neuen Roman "Das Fest des Ziegenbocks" reproduziert der Peruaner Mario Vargas Llosa leider nur Klischees über Lateinamerika
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Gleichzeitig wurde mit dem Archetypus des Diktators ein eigenes literarisches Genre geschaffen: der Diktatorenroman. Der guatemaltekische Schriftsteller und Nobelpreisträger von 1967, Miguel Angel Asturias, schrieb 1922 den ersten großen Roman der Gattung: El Señor Presidente, der erst 1946 veröffentlicht wurde. Er schuf einen archetypischen Diktator und lieferte eine genaue Analyse und Beschreibung der Tyrannei und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft auf der Basis eigener Erfahrungen. In El Señor Presidente bleibt der Ort der blutigen und repressiven Ereignisse ungenannt, es könnte jedes Land Lateinamerikas sein. Ende der sechziger Jahre als im Zuge des rasanten Modernisierungsschubs neue Formen der modernen Diktatur auf dem Subkontinent entstanden, schrieb Gabriel García Márquez auf der Grundlage von Asturias Vorgaben ein Pastiche der Gattung und der Figur des Diktators: Der Herbst des Patriarchen (1975, deutsch 1978). Er arbeitete an diesem Projekt bereits, bevor er Hundert Jahre Einsamkeit (1968) schrieb.García Márquez erfindet hier den Typus des Diktators neu, er schafft einen Patriarchen, der mehr als ein Diktator und Tyrann ist: eine mythische Figur, ein Halbgott, dessen Alter zwischen 107 Jahren und 232 Jahren liegt, der im kollektiven Unbewussten lebt. Der Herbst des Patriarchen liefert vor allem aber eine Karikatur des despotischen Diktators, der Tiergestalten annimmt, und eine Parodie der Diskurse der Macht. Marquez´ Roman war ein Skandal. Zum einen, weil er quer zu ideologischen Erklärungsmustern der Zeit nicht das Klischee vom Weg des allmächtigen Diktators zum Strohmann ausländischer imperialistischer Mächte, bediente. Zum anderen, weil es ein narratives und sprachliches Abenteuer darstellt: über dreihundertfünfunddreißig Seiten hinweg wird ausgehend von einer einfachen Fabel in Motiven, die sich wiederholen, eine sich in viele Stränge verzweigende Geschichte erzählt. Der beziehungsweise die Erzähler wechseln von einem "uns" zu einem "ich" mit jeweils mehrfach ausgestatteter Identität, spielen auf der Klaviatur der Redeweisen zwischen Hoch- und Vulgärsprache. Rückgriffe in die mythische Geschichte wechseln mit einem Zickzackkurs von erzählter Gegenwart (dem Tod des Diktators) zu verschiedenen Zeitebenen der Vergangenheit. Der Roman ist zweifellos die beste und am schwierigsten zu entschlüsselnde Fiktion des Nobelpreisträgers. Bis heute wurde keine andere so gute literarische Analyse und Beschreibung von Diktatur, Gewalt, Paternalismus und Macht in Lateinamerika geliefert. García Márquez hatte als Geschworener des Russel Tribunals in Rom, das 1974 die Militärdiktaturen in Lateinamerika (unter anderem Brasilien, Chile) öffentlich verurteilte, Einblick in die Berichte der Menschenrechtsverletzungen und las die Geheimdokumente, die die Aktivitäten des CIA im Zusammenhang mit dem Militärputsch in Chile 1973 und Ausbildung lateinamerikanischer Militärs in den USA bezeugten.Was war 1975 das absolut Neue? Warum überragt der Roman alle anderen literarischen Versuche bis heute? Thematisch entfernte sich García Márquez im Neuschreiben des Diktatorenromans von seinen Vorgängern indem er einen Typus des Diktators darstellt, der gleichzeitig eine besitzergreifende und repressive Liebesbeziehung zu seinem Volk hat. Sie führt unter diesen doppelten Vorzeichen zu Mord und Gewalt. In der traditionellen Romanform eines Asturias liebt der Diktator die Macht und verachtet das Volk, das ihn wiederum hasst, aber erträgt. Anders bei García Márquez: hier existiert neben der Seite von Ablehnung und Hass auch das Moment von Idealisierung, Mythisierung und Verehrung. Es findet eine Projektion statt indem das Bild eigener Identität und Geschichte auf den Diktator projiziert wird. Der Diktator beziehungsweise das Bild, das er produziert, wird als Selbstbild übernommen und reproduziert. Darüber bildet sich eine Gemeinschaft, die heterogene und widersprüchliche Züge trägt.Einer der vielgestaltigen Patriarchen ist der charismatische Caudillo des 19. Jahrhunderts, der jeden Einzelnen kennt, der die Armen versteht und schätzt, aber die "Gringos" verachtet. Darin ähnelt er den Helden der Freiheitskämpfe dieser Epoche. Er regiert das Volk mit Paternalismus, er ist ein Vater für sie. Es zeigt sich, dass das historische Modell von García Márquez´ Patriarchen in veränderter Form in modernen Zeiten weiter lebt und funktioniert. Das ist der Fall in der jüngsten lateinamerikanischen Geschichte: den diktatorischen Verhältnisse in Peru unter Präsident Fujimori (1992-2000). Er trat erst im November 2000 zurück, nachdem ihm Wahlbetrug und Korruption nachgewiesen wurden und die US-amerikanische Regierung ihn nicht länger unterstützte. Fujimori floh nach Japan, das ihn aufnahm (weil er doppelte Staatsbürgerschaft besitzt). Wie kann sich heute ein Despot wie Fujimori an der Macht halten? Präsident Fujimori hatte ein "Monopol auf die ganz Armen, der Schlüssel heißt Paternalismus", analysierte jüngst der neue demokratische Präsidentschaftskandidat Alejandro Toledo. Er vertritt die Stimmen der indianischen Bevölkerung Perus und geht als Favorit in die Stichwahlen um die Präsidentschaft. "Mit Fujimoris Flucht aus Peru haben die Armen ihren Vater verloren", kommentiert Toledo und charakterisiert ihn als "Vater, der Wahlgeschenke machte, Milch und Essen an die Armen verteilte."Der bekannte peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa war 1992 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Fujimori angetreten und verlor die Wahl überraschend. Sein neuester Roman, Das Fest des Ziegenbocks, ist bezeichnenderweise ein Diktatorenroman. Die Wahl des Themas deutet auf eine Abrechnung mit dem ehemaligen politischen Rivalen. Nach García Márquez Vorgabe von Der Herbst des Patriarchen einen weiteren Diktatorenroman zu schreiben, bedeutet ein großes Wagnis. Die Messlatte liegt auch nach 25 Jahren noch hoch, obwohl García Márquez´ Text im Gedächtnis der Leser nicht mehr so präsent sein wird. Dazu kommt, dass die beiden einst befreundeten Autoren, bekanntermaßen schrieb Vargas Llosa die erste Biographie über García Márquez, schon seit Jahrzehnten eine politische und literarische Feindschaft pflegen.Das Fest des Ziegenbocks behandelt nicht die diktatorische Regierung Fujimoris, die Vargas Llosa über die zwei Amtsperioden detailliert verfolgt hat. Das wäre von großem Interesse gewesen. Stattdessen nimmt er sich die populistische Diktatur Trujillos in der Dominikanischen Republik vor, die 1961 mit der Ermordung des Präsidenten endete. Ergebnis ist ein historischer Roman, der 1959, mit der missglückten Invasion der US-marines in der Schweinebucht von Kuba unter John F. Kennedy beginnt, die Phase der OAS-Sanktionen gegen die Dominikanische Republik als Antwort auf die Menschenrechtsverletzungen in den Blick nimmt und dabei die befürchtete Invasion der US-Marines in der Dominikanischen Republik - ein Bollwerk des Antikommunismus in der Trujillo Ära - fokussiert. Dazu liefert Vargas Llosa eine Art psychologischer Studie des Diktators und einiger seiner Mitstreiter. Er erzählt mit den Mitteln des Realismus. Die Menschen leben "in panischer Ehrfurcht vor dem Chef, dem Generalissimus, dem Wohltäter, dem Vater des Neuen Vaterlandes, vor seiner Exzellenz Dr. Rafael Leónidas Trujillo Molina". Doch in den Augen der Senatoren sieht sich die Sache anders an: "Vom Chef mag man sagen, was man will. Aber die Geschichte wird ihm zumindest das Verdienst zusprechen, daß er ein modernes Land geschaffen hat. Der Chef hat ein kleines Land vorgefunden, das von den bewaffneten Auseinandersetzungen der Caudillos ruiniert war, ohne Gesetz noch Ordnung, verarmt und im Begriff seine Identität zu verlieren".Vargas Llosa schrieb vor vielen Jahren in einer Huldigung an Flauberts Realismus: "Die Darstellung des Sexuellen ist neben der des Politischen eine der heikelsten Aufgaben in der Literatur". Die Dosierung und Verteilung des Erotischen und Sexuellen, die Behandlung politischer Themen im jüngsten Roman des 65-jährigen peruanischen Autors zeugen eher von nachlassender Meisterschaft Llosa´s. Zwar thematisiert der erfahrene Schriftsteller den Machismo Trujillos und seiner Zeitgenossen, aber die feinen Charakterisierungen, Innenansichten der Figuren, die Ironie, die etwa sein frühes Meisterwerk Das grüne Haus (1965) kennzeichneten - es erzählt die komplexe Geschichte eines Bordells in Piura und dazu von Korruption, Ausbeutung und Gewalt - und Unruhe auslöste, finden sich hier nicht wieder. Vargas Llosa gelingt es in Das Fest des Ziegenbocks nicht mehr Machismo zur Karikatur zu reduzieren und anzuprangern, auch wenn er den Leser wissen lässt, dass der General ein Prostataleiden hat und impotent ist. Was García Márquez 1975 im Herbst des Patriarchen meisterlich gelang, nämlich in der Mischung von Lyrischem mit Obszönem einen Spannungs- und Schreckenseffekt beim Leser auszulösen, scheitert bei Vargas Llosa. Die vulgäre Sprache, die er Trujillo in den Mund legt, hat einen Bumerangeffekt. Die Figur bleibt seltsam konturenlos, sie ist einfach gespiegelt. García Márquez hat bekanntermaßen im Herbst des Patriarchen vorurteilslos und gewandt das Wagnis begangen, mit dem Motiv der Exkremente Beunruhigung und Schock bei den Lesern auszulösen. Vargas Llosas Roman hingegen, dem es nicht an Bordellszenen mangelt in der sich eins-zu-eins-Schilderungen von Intimität und Brutalität vermischen, kann wohl eine negative Reaktion hervorrufen, aber im Grunde werden sie nur als banale leere Worthülsen aufgenommen. Es ist geradezu ärgerlich, dass ein großer lateinamerikanischer Autor die alten und neuen Klischees bedient, die über Lateinamerika über seine Geschichte von Diktatur und Macht, machismo, Populismus, Sex und Gewalt, im Überfluss kursieren. Lässt sich der Schluss des Romans, der als Höhepunkt, die endgültige und volle Wahrheit über den Diktator enthüllen soll, anders lesen als ein Akt von Voyeurismus versehen mit einer Überdosis an Kitsch. Die Schlüsselszene beschreibt die Vergewaltigung eines jungen Mädchens durch Trujillo: "Zu seinem Glück genügte es ihm, daß ihr Geschlecht verschlossen war und er es öffnen und sie dabei vor Schmerz stöhnen - brüllen, schreien - lassen konnte mit seinem glücklich hineingequetschten Schwanz, hinein in die Enge der Muschelschalen dieses geheimen, nun entweihten Ortes. Es war nicht Liebe, nicht einmal Lust, was er erwartete. Er war nur deshalb in das Mahagonihaus gekommen um zu beweisen, daß Rafael Leónidas Trujillo Molina trotz seiner siebzig Jahre, trotz seiner Prostataprobleme, trotz der Kopfschmerzen, die ihm die Pfaffen, die Yankees, die Venezolaner, die überall lauernden Verschwörer bereiteten, noch immer ein ganzer Macho war, ein Ziegenbock mit einem Schwanz, der noch immer steif wurde und imstande war, sämtliche jungfräuliche Mösen zu zerreißen, die sich ihm boten". Pardon, aber bitte verschonen Sie mich, Señor Vargas Llosa.Ein ganz anderes Herangehen an das politische Thema von Diktatur und Macht aus Motiven von Rache üben und Rechnungen begleichen zeigt jüngst der chilenische Autor Ariel Dorfmann, der von 1973 bis 1983 im Exil verbrachte. In seinem erzählerischen Essay über Die Hände des Generals Pinochet beschreibt er seine Gefühle und Erinnerungen der vergangenen 30 Jahre in Konfrontation mit dem Diktator. Es handelt sich um eine sehr persönlich-subjektive und gleichzeitig öffentliche und symbolische kleine Rache an dem chilenischen Diktator: "Seit vielen Jahren schon denke ich an die Hände des Generals Pinochet. Jene Hände, die demnächst unentrinnbare und beschämende Behandlung erleiden, der Angeklagte der ganzen Welt unterzogen werden. Ich sehe die Szene vor mir. Seit Jahren träume ich von dem Augenblick, wenn sie fertig sind mit seinen Fingerabdrücken, träume von dem Augenblick, wenn das Gesicht des Bürgers Augsuto Pinochet Ugarte an der Reihe ist. Zuerst von vorn und dann im Profil. So mein General. Genau so. Wie bei einem Kriminellen."Mario Vargas Llosa: Das Fest des Ziegenbocks. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 580 S., 49,80 DM
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