Die Ergebnisse der ersten Wahlrunde am 29. September waren ohne Zweifel eine Niederlage für Amtsinhaber Lula da Silva. Nicht nur, weil ein zweiter Urnengang erzwungen wurde, sondern dem Staatschef - selbst nach einem Wahlsieg am 29. Oktober - in einer zweiten Amtszeit mehr denn je die Hände gebunden sein werden. Dank der Mehrheitsverhältnisse im Kongress und der sich daraus ergebenden möglichen Koalitionen dürften Reformen künftig auf noch größere Widerstände stoßen.
Geldpacken schmücken die Titelseiten
Das wirklich Frappierende kurz vor dem ersten Wahlgang war die Tatsache, wie es mit einer gewaltigen und effizienten Manipulationsmaschinerie binnen kurzer Zeit gelang, bei einem Teil der Wähler einen durchschlagenden Meinungswandel auszulösen. Noch bis Mitte September hatte der Amtsinhaber laut Prognose mit 54 Prozent klar dominiert, dann kam der große Coup - und Lulas "Dossier-Gate". Mitarbeiter aus seinem Wahlkampfstab bekamen von Journalisten ein Dossier angeboten, das sowohl José Serra, den Bewerber um den Gouverneursposten von Sao Paulo, als auch Lulas direkten Herausforderer, den Sozialdemokraten Geraldo Alckmin, in eine direkte Verbindung mit der größten Korruptionsaffäre des Jahrzehnts brachte - des Skandals um die "Blutsaugermafia". Eine Affäre, die in die Regierungszeit des PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) sowie des Präsidenten Fernando Henrique Cardosos fällt und betrügerische Geschäfte mit Krankenwagen betrifft.
Als es zur Übergabe des bewussten Dossiers kommen sollte, war die Polizei schon vor Ort. Die Geldbündel für den Ankauf der heißen Ware wurden "als Beweismaterial" direkt zu TV-Kanälen und Zeitungsverlagen gelotst. Die Fotos der Geldpacken schmückten am Tag darauf die Titelseiten. Und der PSDB zoomte bei seinen TV-Wahlspots mit Hingabe auf Geldscheine im Großformat. Alckmin und Serra tönten unisono: Man wisse nun, wie korrupt Lula und seine Arbeiterpartei (PT) seien. Die Opposition gerierte sich als Opfer falscher Anschuldigungen und als Hort des "Guten", während sich Lula in die Rolle des finsteren Täters gedrängt sah. In einem TV-Spot des PSDB - wieder mit Geldbündeln als Tatwaffe - wurde er anklagt: Dieses Geld, das für den eigenen Vorteil im Wahlkampf verpulvert werden sollte, hätte gereicht, einen Monat lang das Programm zur Unterstützung armer Familien zu finanzieren.
Alckmins Stimmenanteil stieg dank "Dossier-Gate" über Nacht um 20 Prozent, der Kandidat avancierte zum neuen Helden, dem Moral und Ethik im Kampf gegen die Korruption noch etwas wert sind. Dass Alckmin auf Seiten des Business und für eine Politik der Privatisierung steht, geriet ebenso in den Hintergrund wie sein Versprechen, die Unternehmenssteuern deutlich senken zu wollen. Schließlich hatte er bis dahin auch stets beteuert, Lulas Sozialprogramme würden erhalten. Es war aufschlussreich, dass die internationalen Finanzmärkte - wie es im Jargon der Branche heißt - sofort ausnehmend "positiv" auf das gute Wahlergebnis Alckmins am 29. September reagierten.
Der erste Wahlgang (Ergebnis in %)
Lula da Silva (PT) 48,6 Geraldo Alckmin (PSDB) 41,6
Dessen Erfolg bestand besonders darin, elf der 27 Bundesstaaten für sich beziehungsweise die Kandidaten der Opposition erobert zu haben, darunter die Regionen des industrialisierten Südens. Gleichermaßen ins Gewicht fiel der Sieg von José Serra im Bundesstaat Sao Paulo. In den auf die Agroindustrie spezialisierten Staaten im westlichen Zentrum triumphierte gleichfalls die Opposition wie auch in Bahia, einem der ärmsten Gebiete Brasiliens mit der landesweit größten afro-brasilianischen Community, die mehrheitlich der rechten Oppositionspartei PFL (Partido da Frente Liberal) zum Sieg verhalf.
Den Amazonas verkaufen
Eine TV-Debatte zwischen Lula und Alckmin am 8. Oktober läutete die zweite Runde ein, die dem Präsidenten letzten Umfragen zufolge einen Vorsprung von zehn bis elf Prozent bescheren könnte. Erstmals gab es während der Sendung für Lula die Gelegenheit, öffentlich die aus seiner Sicht entscheidenden Fragen zum Thema "Dossier-Gate" zu stellen: Worin besteht der Inhalt der Papiere? Wer hat das Ganze überhaupt inszeniert? Und warum? Lula wollte vor Millionen Fernsehzuschauern festgehalten wissen, die stattgefundenen Untersuchungen gäben die Auskunft: Fast zwei Drittel der in die Affäre um die "Blutsaugermafia" - den Weiterverkauf von Ambulanzen staatlicher Hospitäler zu erhöhten Preisen - verwickelten Politiker kämen aus PFL und PSDB. Ohnehin habe die frühere PSDB-Regierung unter Präsident Cardoso kaum Interesse gezeigt, diese Geschäfte aufzudecken.
Lulas Erklärungen waren auch ein Indiz dafür, wie im Wahlkampf der Arbeiterpartei jetzt erst recht Vergleiche mit der Vorgängerregierung bemüht wurden, um eigene Erfolge herausstellen zu können: Zum Beispiel eine stabilere Ökonomie, Mindestlöhne und Programme zur Hilfe für einkommensschwache Familien ("bolsa familia"), wie es sie noch nie in der Sozialgeschichte Brasiliens gab. Nicht von ungefähr kamen daher die aggressiven Interventionen, mit denen Ex-Präsident Cardoso eingriff. In einem Offenen Brief auf der offiziellen Website des PSDB schmähte er Lulas Trumpf - die gefestigte Wirtschaftslage - "als schlechte Kopie meiner Wirtschaftspolitik". Es sei eine Niederlage für den Amtsinhaber, während des ersten Wahlgangs im Nordosten und damit im zurückgebliebenen Teil Brasiliens gewonnen zu haben und nicht im modernen Süden. Es sei daher nur logisch, die Legitimität dieses Mannes als Staatschef in Frage zu stellen.
Von der Argumentation her eine auffällige Parallele zu Mexiko, wo dem Kandidaten des armen Südens, Lopez Obrador, und der linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD) durch den vermeintlichen Wahlsieger Felipe Calderón von der rechten Nationalen Aktionspartei (PAN) ebenfalls die Legitimität abgesprochen wurde, die Führung des mexikanischen Staates zu übernehmen. Lula konterte, indem er den PSDB wegen seiner hemmungslosen Privatisierungspläne angriff und meinte: "Wenn es eines Tages nichts mehr zu verkaufen gibt, wird eben der Amazonas verkauft."
Ein positives Signal kam unter diesen Umständen vom Gouverneur des Bundesstaats Mato Grosso, der Lula seine Solidarität für den zweiten Wahlgang zusicherte. Zuvor hatte seine Regionalregierung umfassende finanzielle Hilfen für den Agrarsektor beschlossen, was dem Präsidentenlager zugute kam.
Andererseits sprach sich Anthony Garotinho, der Gouverneur von Rio de Janeiro, für Alckmin aus. Er gab sein Votum auch als prominentes Mitglied einer verbreiteten evangelischen Sekte ab, so dass Alckmin, der nach Ansicht mancher brasilianischer Kommentatoren "leicht als evangelischer Priester durchgehen könnte, steckte man ihn in einen Talar", am 29. Oktober mit den Stimmen der evangelischen Gemeinden Brasiliens rechnen kann. Deren Mobilisierungsmacht ist nicht zu unterschätzen.
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