Das Timing könnte nicht besser sein. Angesichts der immer drängenderen Frage, wer die Nachfolge des erkrankten Maximo Líder antritt, erscheint nun Die Autobiographie des Fidel Castro. Spätestens seit Oktober 2004, dem öffentlichen Stolpern des Fidel Castro Ruz haben Szenarien des Post-Castrismo beziehungsweise der Übergangsphase Kubas rege Konjunktur. Der offizielle Diskurs setzt drei Prämissen zur Rettung des revolutionären Erbes: Sie wurden vom kubanischen Außenminister, dem 41-jährigen Felipe Pérez Roque, in Anlehnung an Fidel Castros Rede vom November 2005 artikuliert. Diese Prämissen lauten: Die moralische Autorität der Führung, die auf Vorbildhaftigkeit und Privilegienverzicht basiert, zu bewahren. Die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung zu garantieren, "die nicht auf materiellem Konsum, sondern auf Ideen und Überzeugungen basiert". Und schließlich: Zu verhindern, dass eine neue Bourgeoisie entsteht, die "wenn wir sie einmal hochkommen lassen ein weiteres Mal Pro-Yankee, imperialistisch, oligarchisch-pro-transnational sein wird. Das entscheidende Thema bleibt: wer ist Eigentümer von Besitz und Grund".
Von mehr Interesse ist eine vierte Position, die der ehemalige Castro-Gefährte und Verlger der Zeitung Revolución, Carlos Franqui vertritt. Er ging Ende der sechziger Jahre auf Distanz zum Castro-Regime und lebt heute in Puerto Rico. Franqui gilt als autorisierter Sprecher einer politischen Gruppe von Auslandskubanern. Er hält drei Elemente für entscheidend: Das Exil, das zwar keine Protagonistenrolle in der Frage der Nachfolge einnimmt, aber dennoch Gewicht hat. Die verschiedenen Exilgruppen, die mehrheitlich eine friedliche Lösung im Streit um die Nachfolge und den Transformationsprozess Kubas unterstützen, während nur eine kleine Minderheit andere Positionen vertritt. Die Politik der USA gekoppelt an die Befürchtung, dass mit dem Ableben Fidel Castros eine massive Einwanderung in die USA eintritt oder es zu einem gewaltsamen Konflikt kommt. Um das zu vermeiden, ist wahrscheinlich, dass Raúl Castro als Nachfolger antritt, da er die beste Garantie für Kontinuität des politischen Kurses mit dem Gewicht auf der Staatsicherheit und der Macht der Militärs bietet. Oder es wird der chinesische Weg eingeschlagen: Öffnung der Wirtschaft und eine Politik der Verständigung in der Region. Doch die Lösung steht (noch) in den Sternen.
Doch wer ist nun Norberto Fuentes, der das 1.000 Seiten umfassende Buch vorgelegt hat? Als junger Mann im vorrevolutionären Kuba identifizierte sich der 1943 geborene Autor mit Babel, einem russischen Schriftsteller, der über Bauernaufstände schrieb und mit einer Kugel im Kopf starb. Das war in der Zeit der Guerilla-Zeit in den Bergen, damals war Fuentes dicht an Fidel Castro. Ihm schwebte vor, etwas zu verfassen, das es mit Mandelstams Ode an Stalin aufnehmen konnte. Fuentes verbrachte auch eine Zeit in der Sowjetunion, fungierte zeitweilig auch als Botschafter. In den achtziger Jahren schrieb er Berichte über Afrika für die Zeitung Granma, und zwar über die größte und mächtigste lateinamerikanische Armee, die kubanische, und über die größte Schlacht nach dem Zweiten Weltkrieg 1988 im Angolakrieg. 1989 ist Fuentes am Flughafen in Luanda, als der oberste General der kubanischen Militärmission in Angola, Arnaldo Ochoa, von anderen Generälen eskortiert, in ein Flugzeug nach Havanna gesetzt wird. Ochoa wird kurze Zeit später in einem Schauprozess verurteilt und hingerichtet. Der Schriftsteller Gabriel García Márquez erreichte in Verhandlungen mit Fidel Castro, dass Fuentes mit seiner Familie Kuba verlassen kann. Keiner schrieb die Autobiographie Stalins, aber Norberto Fuentes legt nun Die Autobiographie des Fidel Castro vor.
Entscheidend für dieses Unterfangen ist, dass Fuentes eine Brücke schlagen kann zwischen den Mitarbeitern der frühen und der späteren Zeit. Fuentes´ Bild Castros deckt sich mit dem Porträt, das Márquez 1987 vom frühen Fidel Castro zeichnete. Er charakterisiert ihn als "schlechten Verlierer", als jemand, der partout gewinnen muss. Castro erscheint als unermüdlicher Kämpfer, der die Bedingungen umzukehren, zu siegen weiß. Fuentes wendet das Bild indem er den Blick auf den hohen Preis des Sieges richtet. Frappierend ist zu sehen, dass Fuentes´ Porträt des späten Fidel Castro sich in Nichts vom frühen Márquez´ unterscheidet. Das Motto der Autobiographie ist: Die Revolution bin ich.
Das große Kunststück, die Lebensgeschichte von der Kindheit Castros über die Jugend- und die Studentenzeit bis zur Revolution und Regierung als Staatsoberhaupt (über 47 Jahre) sowie die ereignisreiche Geschichte Kubas im 20. Jahrhundert heute, in Zeiten des Übergangs, noch einmal zu schreiben, gelingt dem Autor glänzend. Fuentes nutzt die Vorteile der Gattung. Bei Autobiographien liegt das Gewicht auf der imaginären Konstruktion eines Ich und der Konfrontation dieses imaginären Ich mit dem Unbewussten. Als Schriftsteller und als jemand, der alles über Kuba und Castro weiß, macht Fuentes nachvollziehbar wie das Erzählte funktioniert und wie das imaginäre Ich entsteht. Und er zieht Bilanz, eine düstere Bilanz. Im Anhang finden sich seitenlange, kurz kommentierte Namenslisten derjenigen, die "nicht überlebt haben in Kuba" und "im Ausland", darunter fast alle ehemaligen Kameraden der ersten Stunde der Revolution. Auch die Namen, die "bis 2004 Fidel entkommen waren" sowie der "Begnadigten, die für Propagandazwecke missbraucht wurden", sind verzeichnet.
Die Autobiographie setzt bei der jungen Republik Kuba an. Fuentes liefert genaue Beschreibungen und Analysen des politischen Lebens Kubas im Jahr1933, als die Revolution und die abenteuerlichen Machenschaften des Sergeanten der Armee, des späteren Diktators Fulgencio Batista auf der Tagesordnung standen. Dann rückt Fidel Castro als Boss einer studentischen Gruppe in den Mittelpunkt. Deren Motor sind Abenteuersuche und Enthusiasmus. Sie führen sich wie Halbstarke auf und ihre Machenschaften unterscheiden sich in nichts vom Gangstertum. Das Buch setzt auf Lücke: Fuentes analysiert die Vor-revolutionären Zeiten. 1947 verbringt Fidel Castro als einfacher Soldat zwei Monate auf der Insel Cayo Confites an der Nordküste Kuba und lernt in der "Schule der Intervention" das ABC der Revolution. Das vom kubanischen Erziehungsministerium finanzierte und der Sozialistischen Revolutionären Bewegung getragene Unternehmen hat zum Ziel, in die Dominikanische Republik einzufallen und den Diktator Rafael Leónidas Trujillos zu stürzen. Die Operation, die von der "Größenordnung der vom CIA gesteuerten Invasion der Schweinebucht" in nichts nachsteht, so Fuentes, scheitert aber in der Vorbereitungsphase.
Selbstverständlich unterscheidet Fuentes einzelne Etappen und Phasen der Revolution, die kein homogenes Ereignis ist, und es gelingt über die Länge von 671 Seiten auch deren Scheitern zu erklären. In seiner (Schluss-)Bemerkung schreibt Fuentes: "Die wahre Geschichte des Fidel Castro verbirgt sich in einem Bereich, der vollkommen abgeschirmt ist und unter absoluter Kontrolle steht, in seinem Gehirn. Einige seiner Sätze, die in vertrauter Runde im Freundeskreis oder in Vieraugengesprächen mit ihm gehört wurden, vor allem aber die fortwährende und bewusste Beobachtung jeder seiner Aktionen im Verlauf von 40 Jahren ermöglichen einen Zugang zu dieser geheimen, ausschließlich ihm vorbehaltenen Zone. Doch daneben gibt es auch die Anekdoten, die im Kreis der engsten Vertrauten im Umlauf sind".
Ausgestattet mit diesem Instrumentarium an Wissen und Erfahrung kann Fuentes die Legendenbildung um den Revolutionär dekonstruieren und dieses imaginäre Ich - Fidel Castro - konstruieren. Bei einer der ersten revolutionären Ansprachen, die Castro vom Rathaus in Santiago nach dem Teilsieg 1959 hält, hat der erste Satz: "Endlich sind wir da!" die beste Wirkung unter den Zuhörern. Hingegen wird der aufschlussreichste Satz von niemandem beachtet. Er lautet: "Die Revolution ergreift die Macht, ohne jemandem verpflichtet zu sein". Da Castro davon überzeugt ist, dass er die Revolution in persona ist: DIE REVOLUTION BIN ICH, ergreift er die Macht, "ohne jemandem verpflichtet zu sein", schlussfolgert Fuentes.
Nach der Kubakrise, die im Oktober 1962 mit dem Abschuss des Aufklärungsflugzeugs der USA durch sowjetisches Militär vor Kuba ihren Höhepunkt nahm, an dessen Ende Fidel Castro nur noch ein einziger "Hampelmann" war, da die Angelegenheit zwischen Chruschtschow und Kennedy ausgehandelt wurde und eigentlich das Ende der Geschichte gekommen war, findet eine symbolische Politik des "Armdrückens" statt. Obwohl Castro bereits 1968 nach dem Prager Frühling tausendprozentig auf UdSSR-Linie gegangen war, setzte er mit der Padilla-Affäre April/Mai 1971 ein neues Signal an die Sowjets. Er will eine harte Linie gegen den Liberalismus und endgültige Abwendung von der europäischen Intellektuellenwelt zu demonstrieren, um vielleicht wertvolle Erdöllieferungen aus Baku zu bekommen: der Dichter Padilla wird geopfert. "Norberto Fuentes ist der einzige kubanische Schriftsteller, der die von Fidel Castro erzwungene Selbstkritik des Dichters Heberto Padilla (April/Mai 1971) missbilligt und es ablehnt, sich selbst anzuschuldigen", schreibt Fuentes.
Am 11. November 1987 reist Castro zum Treffen mit Gorbatschow anlässlich des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution nach Moskau. Am selben Tag entsendet Fidels Bruder Raúl Castro General Ochoa als Chef der Militärmission nach Angola. Ochoa ist seit 1986 im Drogengeschäft tätig. Die kubanische Armee, die seit 1975 in Angola Krieg führt, wird aufgestockt, um das Ende des Konflikts zu erzwingen. Doch die kubanischen Truppen sind letztlich nicht in der Lage, die südafrikanische Armee zu schlagen. Die Sowjetunion stellt die militärische und wirtschaftliche Hilfe für Angola ein. Das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika ist ein Sieg des Marktes.
In zwei von vier Drogenhandelsfällen und Geldwäsche - es geht um Geschäfte im Wert von 50 Millionen US-Dollar - weisen US-amerikanische Gerichte die Beteiligung hoher Funktionäre der kubanischen Regierung (Raúl und Fidel Castro werden genannt), nach. Präsident Ronald Reagan stellt in einer Rede die Forderung, Kuba habe der Welt zu erklären, ob es sich um einen Akt "abtrünniger Funktionäre" handele. Fidel Castro sieht als einzige mögliche Rettung der Revolution die "Liquidierung seiner Leute". Neben Ochoa, einem alten Castro-Freund, werden drei weitere hohe Militärs exekutiert, am 13. Juli 1989. Der Innenminister José Arantes, er wird wegen seiner Perestroika-Rede abgesetzt, stirbt im Gefängnis nach Verabreichung von Injektionen an Herzversagen. In einer Rede Castros wird dieses düstere Kapitel mit "Fehlern der Generäle im Tätigkeitsfeld und Initiativen bei internationalistischen Missionen" abgehandelt. Das erzählende Gegengewicht zu dem monologischen Castro-Ich bilden Dialoge, mündlich kursierende biographische Elemente, Witze und Fuentes ironische Kritik der Bürokratie: so wird die "Behörde für historische Angelegenheiten des Staatsrats" von ihm kurzerhand in "Behörde für hysterische Angelegenheiten" umgetauft.
Norberto Fuentes: Die Autobiographie des Norberto Fuentes. Übersetzt von Thomas Schultz. Beck, München 2006, 757 S., 29,90 EUR
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