Er war einer von uns

Deutscher Roman in spanischer Sprache In "Das Klingsor Paradox" wagt sich Jorge Volpi an das Thema der Wissenschaft im Nationalsozialismus

Der Romanauftakt ist fulminant wie aus dem Drehbuch eines besseren Hollywoodfilms über Hitlers letzten Tag im Bunker: "Licht aus!" "Noch mal von vorne", befiehlt er. "Ich will ihn noch einmal sehen". Aufmerksam lauscht der Führer dem Rauschen, dass der Apparat aussendet. Vor ihm vollziehen Licht und Schatten ihr blutiges Ritual. Mit der Begeisterung des Kindes, das seine Lieblingsgeschichte hört, genießt Hitler zum x-ten Mal das Schauspiel. Einem Schlag folgt ein Aufschrei, einer Verwundung ein Blutstrahl, der Reglosigkeit folgt der Tod, die Bestrafung seiner Feinde. "Bravo!" brüllen seine bildfüllenden Lippen. Die Szene schildert wie Hitler sich allabendlich diesen Film über die Hinrichtung der Angeklagten des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 ansieht, um seine unwiderrufliche Niederlage zu vergessen. Geschildert wird sie von der Hauptfigur des spannungsreichen Romans Das Klingsor-Paradox von Jorge Volpi. Als Erzählerfigur wählt der mexikanische Autor einen deutschen Mathematiker: er ist einer der Attentäter-Angeklagten und entgeht im Roman nur zufällig der Hinrichtung. 1989, kurz nach dem Mauerfall erinnert er sich und erzählt seine Leben als Naturwissenschaftler in der Nazizeit.

Volpi hat mit diesem Thema den herausragenden deutschen Roman über die Geschichte der Verquickung zwischen Naturwissenschaften, Nazideutschland und Amerika geschrieben, den Roman, den deutsche Schriftsteller bis heute nicht geschrieben haben. Die Auseinandersetzung mit deutscher Wissenschaftsgeschichte im Nationalsozialismus, sei es im Roman oder Sachbuch oder auch im Film, scheint ausländischen Autoren vorbehalten zu sein. Ein Phänomen, das auch die 2001 oscarprämierte italienische Filmkomödie, Das Leben ist schön, belegt. Volpi bekam für Das Klingsor-Paradox 1999 den spanischen Literaturpreis der "Biblioteca Breve". Der Juryvorsitzende, Guillermo Cabrera Infante, bezeichnete das mit "fiktiven" und "historischen Figuren" des Nazismus ausgestattete Buch treffend als "deutschen Roman" in spanischer Sprache. Er sei ein "meisterhaftes Beispiel der "Wissenschaftsfusion": jenes Kunststücks, "Wissenschaft mit Geschichte, Politik und Literatur" zusammenzuführen. Um den historischen und naturwissenschaftlichen Stoff attraktiv zu verpacken schrieb Jorge Volpi einen anspruchsvollen Wissenschafts- beziehungsweise Spionagekrimi.

Die Story ist spannend: Der deutsche Mathematiker Gustav Link soll zusammen mit dem jungen amerikanischen Physiker, Oberleutnant Francis P. Bacon, kurz nach Ende des II. Weltkrieges in einer US-amerikanischen Mission jenen Wissenschaftler in Deutschland ausfindig machen, der für Hitler die Atombombe baute. Sein Deckname lautet Klingsor. Wie Detektive der "schwarzen Serie" versuchen die beiden Wissenschaftler Klingsors Spuren zu finden und zu sichern. Im Zuge ihrer Nachforschungen enthüllen sie Leben - öffentliches und privates -, Charakter, Mentalität, Arbeit und Alltag der großen deutschen Naturwissenschaftler der Zeit, allen voran die Nobelpreisträger Max Planck, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger. Der Physiker Schrödinger wird als "Latin lover der Wissenschaft" porträtiert: "Ein eher häßlicher, dürrer kleiner Mann mit riesigen runden Brillengläsern, die sein halbes Gesicht verdeckten. Er hätte nicht sagen können, was ihn mehr begeisterte: die Physik oder die Frauen. Als waschechter Wiener war Schrödinger das genaue Gegenteil von Heisenberg, umgänglich, ein Frauenheld, Dandy und Bonvivant, der sich die Lebensphilosophie der Strauß-Walzer zu Herzen nahm: Wein Weib und Gesang". Das Ergebnis der Detektivarbeit - die Lösung des Klingsor-Paradox - ist: "jeder könnte Klingsor sein". Diese Antwort legt Volpi der Romanfigur Max Planck in den Mund und lässt ihn hinzufügen: "Niemand kannte ihn beim Namen. Niemand hat ihn in Ausübung seiner Tätigkeit gesehen. Er war einer von uns". Der Roman verkündet: die historische, politische, moralische, wissenschaftliche Wahrheit ist relativ. Volpi hinterfragt das erkenntnistheoretische Modell der "Spurensicherung" und versucht aus der Sackgasse von Rationalismus und Irrationalismus, der Zweiteilung der Welt in "Gut" und "Böse" herauszukommen. Dennoch bezieht der Autor Position: Aufklärung über die Arbeit deutscher Wissenschaftler im Dienst des Naziregimes. Das ist zwar keine neue Entdeckung, aber ein brisantes Thema.

Volpi nimmt sich besonders den Fall Heisenberg vor: "Er genießt den Schutz von Himmler, Speer und Göring, seine Loyalität zum Reich ist über jeden Zweifel erhaben. Heisenbergs Atomprojekt wird in die Kategorie "dringend" erhoben. Seine Arbeit hat kein anderes Ziel, als Hitlers Macht zu steigern". Befragt nach der Idee gerade die Zeit des Nationalsozialismus zu wählen, antwortet Volpi 2000: "Die nationalsozialistische Herrschaft, der Erste und Zweite Weltkrieg, diese besonders ungewissen und faszinierenden Augenblicke der Geschichte fallen zusammen mit der wunderbaren Zeit der Quantenphysik, als der Zufall zu einem Teil des wissenschaftlichen Instrumentariums wurde. Das eignet sich hervorragend für einen Roman, der versucht, Wissenschaft zu thematisieren und gleichzeitig Fragen über Macht und das Böse anzuschneiden".

Bemerkenswert ist wie Volpi das populäre Genre des Krimis einsetzt um eine Alltags- und Realitätsbeschreibung der Wissenschaft in der Nazizeit zu liefern, ihr haftet nichts Formales oder Metaphysisches mehr an. Volpi gelingt es mit der Umfunktionierung des Genres tiefgreifende Umbrüche im Sozialen, in Mentalität und Alltag zu beschreiben. Sie werden als unmittelbare Antwort auf die massiven Modernisierungsschübe in deutschen Großstädten der 30er Jahren interpretiert. Allerdings misslingen Volpi die zum Genre gehörenden häufigen Liebesszenen. Die intimen Begegnungen der Liebespaare wirken seltsam schablonenhaft: in fast jeder dieser Szenen "spielt" die Frau "mit dem Geschlecht des Geliebten" und der Mann "beißt sie ins Ohrläppchen". Hier scheint sich Volpi zu eng an sein literarisches Vorbild Mario Vargas Llosa zu halten.

Der 1968 geborene Jorge Volpi, Autor von sieben Romanen, arbeitete lange Zeit als Rechtsanwalt, heute ist er mexikanischer Kulturattaché in Paris. Er gründete eine Gruppe mexikanischer Schriftsteller, die sich "Crack" taufte. Sie versuchten 1996 mit einem Manifest den Generationswechsel unter lateinamerikanischen Autoren einzuläuten. Dieser hatte sich durch Schreiben und öffentliches Auftreten schon längst erfolgreich vollzogen. Der Aufstand gegen die "Väter", die erfolgreichen Autoren des sogenannten Booms der lateinamerikanischen Literatur etwa Gabriel García Márquez, richtete sich in erster Linie nicht - wie der deutsche Verlag fälschlicherweise behauptet - gegen den "magischen Realismus" - die geniale Erfindung von García Márquez in Hundert Jahre Einsamkeit (1967). Volpi und seine Kollegen richteten sich auch nicht gegen Autoren wie Umberto Eco, Günter Grass, Salman Rushdie, Toni Morrison, Kenzaburo Oe, die das Erzählmodell "magischer Realismus" übernommen und kunstvoll zelebriert haben, sondern gegen jene Trittbrettfahrer wie Isabel Allende, die zur Verwässerung und Banalisierung dieser Erzählkunst und ihrem ästhetisch-politischen Anliegen beigetragen und dabei viel Geld verdient haben. Anstelle ein Manifest gegen Isabel Allende Co. zu schreiben, wandte sich das Manifest allgemein gegen die Erwartungshaltung von Verlegern und Lesern an lateinamerikanische Schriftsteller, exotische Themen zu liefern und ausschließlich über ihre Länder zu schreiben. Als Antwort auf diese im Manifest artikulierte Sorge zu wenig Platz, Macht und Geld im Literaturmarkt zu bekommen, beruhigte Gabriel García Márquez Volpi, den "jungen Wilden", mit dem herzlichen, aber ironischen Satz: "Ich möchte den einzigen Schriftsteller beglückwünschen, der besser ist als ich". García Márquez kann gelassen bleiben, denn seine Klasse hat Volpi lange noch nicht erreicht. Irgend etwas stört beim Lesen des Romans, ich wusste nicht genau was, bis ich Volpi in einem Interview sagen hörte: "mein Lieblingsschriftsteller ist Thomas Mann". Man möge es mir nachsehen: der ist nicht mein Fall.

Jorge Volpi: Das Klingsor-Paradox. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 500 S., 49,- DM

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