Kuba ist ein Labyrinth

RAUM DES ÜBERGANGS In der aktuellen Literatur zu Kuba schwankt das Bild der Karibikinsel zwischen dem exotischen Klischee und dem Symbol für das Nachdenken über die Post-Castro-Ära

Auch die kubanische Literatur erlebt gegenwärtig ihren Boom im Zuge des anhaltenden Kubakults, der mit Wim Wenders großartigem Film Buena Vista Social Club seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Ein Dutzend neuer Titel verzeichnet der deutschsprachige Buchmarkt seit Ende 1999. Romane schwimmen auf der Kubawelle von Kino, Musik und Reisen mit. Selbst Kubamuffel reisen heute auf die Insel. Oft wird der Aufenthalt zum touristischen Flop, denn die Dollarisierung des Landes beschert hohe Preise. Die schlechte Versorgungslage nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft 1992 hält noch an, obwohl es Anzeichen für eine Wiederbelebung der Wirtschaft gibt. Im Zuge gelockerter Reisebestimmung für Exilkubaner, zunehmender staatlicher Genehmigung privater Unternehmen wie Restaurants, fließen Dollarmengen von einer Größenordnung ins Land, die sich staatswirtschaftlich niederschlagen.

Bei aller Freude über die starke Präsenz kubanischer Literatur im Sog des medial erzeugten Kubaboom stellt sich doch die Frage nach dem Stellenwert jedes Buchs. Welchen Beitrag leistet es? Ist seine Übersetzung berechtigt, oder geht es nur um einen weiteren Kubatitel? Warum findet ein Buch gerade jetzt Aufmerksamkeit? Als Alejo Carpentier 1939 aus Paris nach Havanna zurückkehrte, veröffentlichte er fünf Zeitungschroniken in dem Buch: Havanna aus der Sicht eines Touristen. Sie sind nun mit weiteren Chroniken und Essays aus den Jahren 1940 bis 1973 unter dem Titel Mein Havanna erschienen. Carpentier beschreibt 1939 seine Situation der Wiederbegegnung, nach elf Jahren Abwesenheit, so: »Mit neuen Augen, frei von Vorurteilen, tritt man der eigenen Welt gegenüber...Angespornt von frischer Neugier, fühlt sich der Betrachter der eigenen Heimat genötigt Werte zu revidieren, seine Ideen neu zu definieren, das Stadtviertel, das ihm Jahre zuvor völlig uninteressant erschienen war, ganz genau zu erforschen«.

Carpentier betont das Besondere dieser neuen Perspektive, eines in umgekehrter Richtung reisenden lateinamerikanischen Bildungsreisenden (nicht von Lateinamerika nach Europa, sondern von Europa zurück nach Lateinamerika) ist es: »Betrachter der eigenen Heimat« zu sein. Als moderner Tourist flaniert er durch das neue-alte Havanna, dessen »Äußerungen geistiger Provinzialität verschwunden sind«. Erstaunlich ist der blinde Fleck in seiner Wahrnehmung: Carpentier erfasst das bemerkenswerte Andere, das Moment der eigenen Modernität Havannas, nicht, jedenfalls nicht bewusst. Obwohl diese sich bereits 1939 in der Präsenz und Übernahme US-amerikanischen Lebenstils manifestiert. Beschreibungen modernen Lebens tauchen in den frühen Chroniken vereinzelt, in Halbsätzen auf, etwa so: »Die Leute sind relativ einheitlich gekleidet. Alles ist modern, aktuell«. Der Betrachter Carpentier ist mit dem Blick des Ethnographen ausgestattet, es sind die Details, die ihn interessieren: »Vor allem diejenigen, welche ich vor meiner Abreise nicht zu sehen verstand. Diejenigen, welche vor allem die Existenz einer Volkskunst in Havanna betreffen«. Volkskunst und Alltagskultur werden neu entdeckt und zum Inbegriff des »Schönen« erklärt. Carpentier findet auf Havannas Märkten genau das, was europäische Avantgardekünstler als neuen Realismus proklamierten: »Die ergiebigste und produktivste poetische Schule unserer Tage, der ›Superrealismus‹, hat eine Wahrheit festgehalten, welche die Optik des modernen Reisenden irgendwie verändert hat, nämlich diese: Bei dem, was der Mensch erschafft, ist nicht nur das Künstlerische schön. Oder dass ein ganz schlichter Gegenstand, ein Erzeugnis volkstümlichen Kunstgewerbes, ein rührendes Votivbild, ein Spielzeug, also Dinge, die ohne künstlerische Ambitionen angefertigt wurden, ein poetisches Fluidum besitzen, das mehr wert ist als die unglückliche Ästhetik eines missratenen Kunstwerks.« Afro-kubanische Kultur spielt schon hier die Schlüsselrolle.

Carpentier entwirft in den Chroniken das Bild der karibischen Hauptstadt als das kultureller Vermischung. Sie ist von Heterogenität geprägt, und in ihr ist die Poetik der »wunderbaren Wirklichkeit« ausschlaggebend. Hier tauchen die Ideen und Elemente auf, die später beispielsweise seinen bekannten Roman Die verlorenen Spuren (1953) literarisch und ästhetisch bestimmen. In jüngster Zeit sah sich der Papst US-amerikanischer Literaturwissenschaft, Harold Bloom, dazu veranlasst, Alejo Carpentier in seinem Literatur-Kanon aufzunehmen.

Auf die Texte Carpentiers und anderer kubanischer Autoren, Musiker, Dichter stützt sich der spanische Autor Miguel Barroso in seinem Debütroman Wiedersehen in Havanna. Er tut gut daran, denn ohne einen Rückgriff auf bekannte Figuren und Typen, literarische Beschreibungen Havannas, ohne belebende Zitate aus der Umgangssprache, aus Musiktexten wäre Barrosos Versuch, das vorrevolutionäre Havanna zu beschreiben, gescheitert. Denn Handlung und Szenerie stecken voll mit Gemeinplätzen und Klischees. Der Roman kommt als Krimi mit politischem Einschlag daher. Zeitraum der Handlung sind die letzten Monate des Regimes von Batista. Der Roman endet mit dem Sieg Fidel Castros über das korrupte, unmoralische und unsoziale Regime. Erzählt wird die Geschichte einer Männerfreundschaft, die scheitert, weil der eine im Lauf der Jahre zum politischen Gegner übergelaufen ist. Das Havanna der fünfziger Jahre erscheint mit einschlägigen Schauplätzen von Bars, Hotels, Kabaretts und Spielhöllen als eindimensionales Abziehbild der exotisch-erotischen Stadt. Die Schwäche des Buchs liegt vor allem in der realistisch-journalistischen Erzählweise, die über die Länge des Romans nicht trägt. Der Politkrimi schwimmt mit auf der Welle des Booms. Wahrscheinlich wäre er zu einem anderen Zeitpunkt nicht wahrgenommen beziehungsweise nicht übersetzt worden.

Anders verhält es sich mit Martin Cruz Smiths Roman, Nacht in Havanna, der gleichen Gattung. Der Pfiff dieser Krimi-Agentengeschichte liegt im historischen Schnitt. Cruz Smith wählt den Zeitraum nach Ende des kalten Krieges, nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers. Protagonist der Handlung ist ein Russe, der nach dem Abzug der Sowjetunion aus Kuba nach Havanna reist und versucht, einen Kriminalfall aufzuklären. Das politische und kulturelle Spannungsfeld unter veränderten Vorzeichen bietet den idealen Stoff für eine lebendige, witzige Geschichte. Cruz Smith nutzt die Gelegenheit, um eine genaue Beschreibung vom Alltag im Havanna Mitte der neunziger Jahre zu liefern.

Dein ist das Reich heisst der Roman des kubanischen Autors Abilio Estévez. Damit beginnt auch die Schlussformulierung des christlichen Vaterunsers. Dem Buch vorangestellt ist ein Matthäuszitat: »Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben habe«. Auch einige Kapitel beginnen mit Bibelzitaten, das vierte Kapitel heißt »Finis gloriae mundi« - Das Ende der Welten Herrlichkeit. Wie ernst gemeint sind die religiösen Zitate? Hat Abilio Estévez etwa einen christlich-religiösen Roman vorgelegt? Nein, gleich zu Beginn des Romans verweist der Autor auf die ironische, kritische Haltung, die sein Schreiben im Umgang mit Glaubensdingen und Dogmen einnimmt: »So viel wurde und wird über die Insel erzählt, dass man verrückt werden würde, wollte man alles glauben, behauptet die barfüßige Gräfin ... lächelnd, mit ironischem Blick«. Die barfüßige Gräfin ist eine der sechzehn Bewohner der »Insel«, einem archaischen und gleichzeitig realen Ort, der ganz in der Nähe von Havanna angesiedelt ist.

Die Insel ist ein Gebiet voller Bäume und Pflanzen, antiker und moderner Statuen, ein Ort des Paradiesischen und des Katastrophischen. Hier leben Außenseiter in einer verschworenen Gemeinschaft: Träumer, Verrückte, Verwirrte wie Professor Kingston, der schwule Buchhändler Onkel Rolo, die gealterte Opernsängerin Casta Diva. Obwohl die Insel als Ruine - dem Inbegriff des 19. Jahrhunderts - gekennzeichnet ist, sind die Gegenwartsbezüge deutlich. Beschrieben wird, wo und wie die Verlierer des Castro-Regimes während der letzten 45 Jahre lebten. Ihr Lebensalltag gleicht einem heroischen Akt, denn es fehlt an allem. In Estévez Weltentwurf sind die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Schatten und Sonne fließend. Er schafft einen Raum des Übergangs und eine Zeit des Umbruchs, ein Szenarium, das es ermöglicht, sich zwischen Historie und Geschichte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu bewegen. Die zentralen Fragen des Romans lauten: was ist Kuba, was war Kuba und was wird oder was könnte Kuba werden? In einem Interview von 1997 bekennt Estévez: »Kuba ist ein Labyrinth, und wir wissen nicht, wo der Ausgang ist«. Den Schlüssel zum Ausgang sucht der Autor im Jahr 1958. Er lässt den Roman von Ende Oktober bis 31. Dezember spielen, dem Tag als Diktator Batista Kuba verließ, als das Land vor einem großen Wechsel stand. Der Blick zurück auf den Bruch 1958 dient Estevéz dazu, die gegenwärtige Situation Kubas zu überdenken und sich die Post-Castro Ära vorzustellen. Ist das Bild der Insel als Ruine ein Abgesang auf das Kuba als utopischer Entwurf? Der Roman endet mit einem Neuanfang, der Frage und Feststellung: »Ist es etwa nicht richtig, ja sogar notwendig, daß am Anfang das Wort war, daß unsere vielgestaltige Welt mit einem einfachen Wort begann?«

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