Neue Kartographen

ZIVILE GESELLSCHAFT IN LATEINAMERIKA Wie reagiert man auf die Herausforderungen der Globalisierung?

Wann ist in Lateinamerika eigentlich eine Zivilgesellschaft wirklich eine zivile Gesellschaft? Wenn die Gewaltbereitschaft in der Hauptstadt so weit gesunken ist, dass zwar "vergewaltigt, aber nicht gemordet" wird? Mit dieser Aussage disqualifizierte sich unlängst der zweimalige Ex-Bürgermeister im Wahlkampf von São Paulo, Paulo Maluf. Seine Kontrahentin im Rennen um das höchste Amt der 16-Millionen Stadt, Marta Suplicy von der Arbeiterpartei PT, entfesselte um diese erschreckende Ethik eine öffentliche Debatte. Mit den Stimmen der Frauen trug sie den überwältigenden Sieg davon. Entscheidend für ihren Erfolg war, dass sie das Eintreten für Forderungen der zivilen Gesellschaft mit einer charismatischen Persönlichkeit koppelte. Marta Suplicys politische Versprechen, die Korruption zu besiegen, Mitbestimmung über öffentliche Gelder, greifen nur in Verbindung mit ihrem telegenen Charisma: eine paulistanische Lady Di ausgestattet mit der Intelligenz und Professionalität einer Hillary Clinton. Dazu wartet die in den USA ausgebildete Psychologin mit Kompetenz auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft auf: 1985 moderierte sie ein eigenes TV-Programm über Sexualität, das heikle Themen wie Homosexualität behandelte. Das ist bedeutsam, weil São Paulo neben Buenos Aires eine Dichte an praktizierenden Psychoanalytikern aufweist, die die von New York bei weitem übersteigt. Paulo Malufs Doppelstrategie Marta Suplicy mit den Etiketten "Sexologin" und "Dona Marta von der Arbeiterpartei" als Nestbeschmutzerin von Sitte und Moral einerseits und als Verräterin der eigenen Klasse, der Oberschicht andererseits, zu diffamieren, schlugen fehl. Seine aggressiven verbalen Tiefschläge prallten ab am Bild der blonden, in Haute Couture gekleideten, 52-jährigen.

Der Sammelbegriff "zivile Gesellschaft" als Bezeichnung für den Umgang mit Demokratie ist heute zu einem unscharfen Begriff geworden, nachdem er Ende der achtziger Jahre zum Zauberwort avanciert war: die Lösung schlechthin um Korruption und Manipulation Paroli zu bieten. Seit den siebzigerer Jahren hat der Begriff sich gewandelt: Damals tauchte er als Kampfbegriff auf, richtete sich gegen die autoritären, militärischen Regime. Im Zuge der Rückkehr zur Demokratie in den achtziger Jahren diente "zivile Gesellschaft" zunächst als Modell für die Errichtung funktionierender Institutionen. Mit zunehmender Ausweitung der Demokratie, seit den neunziger Jahren, wird Zivilgesellschaft als organisierter Bereich des gesellschaftlichen Lebens verstanden, in der Gruppierungen Werte und Forderungen gegenüber dem Staat artikulieren. Doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig. Die Anpassungsprogramme an Neoliberalismus, die Umorganisierung der Märkte verschlechterte die wirtschaftliche Situation lateinamerikanischer Länder. Der politische Spielraum nationaler Regierungen wird enger. Die zunehmenden soziale Spannungen im öffentlichen Leben entladen sich unkontrolliert.

Das zeigen jüngste Ereignisse in Argentinien. Die Mitte-Links Regierung von Präsident Fernando de la Rua, die seit elf Monaten im Amt ist, erlebt bereits den dritten Generalstreik. Nach dreißig Monaten Rezession und radikaler Sparpolitik der neuen Regierung, dem Ausscheiden des populären linken Vizepräsidenten Chacho Alvarez, stehen Unruhen auf der Tagesordnung. Indiz dafür, dass bestimmte (Selbst-)Regulierungsprozesse des sozialen Systems der Zivilgesellschaft nicht stattfinden können. Ein Vergleich Argentiniens mit Venezuela, unter dem Links-Populiste Hugo Chávez, legt die Vermutung nahe, dass Eskalationen argentinischer Coleur möglicherweise nur unter Regierungen stattfinden, die sich von populistischen Traditionen distanzieren wie das bei Fernando de la Rua der Fall ist. Mangel an Charisma wird auch Brasiliens Oberhaupt Cardoso vorgehalten. Doch kommt es in Brasilien nicht zu vergleichbaren Konflikten. Zwar schickt Cardoso die Militärpolizei um gegen Besetzungen der "Movimento Sem Terra", der "Landlosenbewegung" vorzugehen, aber parallel dazu wird über die Abgabe von Land an Mitglieder der Bewegung verhandelt. So erreichte die brasilianische Bischofskonferenz jüngst die Gewährung von Krediten für 110.000 besitzlose Familien.In Mexiko hat der neu gewählte Präsident Fox, die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der indianischen Bewegung der "Zapatisten" für kommenden Februar angekündigt, die 1994 im Bundesstaat Chiapas einen Aufstand organisierten, der internationale Unterstützung fand. Geplant sind Gesetzänderungen, die der indianischen Bevölkerung Bürgerrechte zugestehen. Doch über das Entscheidende, die Gewalt von paramilitärischer Seite fällt von Regierungsseite kein Wort. Ohnehin ist die Übertragung der Idee von Bürgerrechten auf Lateinamerika problematisch. Geschichtlich gesehen funktionierte das Konzept des "Bürgers" in Lateinamerika auf der Basis der Ausgrenzung, der Differenz. Das betrifft nicht nur die Unterschiede von Klasse und Geschlecht betrifft, sondern auch von Rasse und Ethnie.

Der Versuch eine Gegenwartsdiagnose über den Zustand ziviler Gesellschaft zu stellen und das heißt auf die Herausforderung kultureller Globalisierung zu reagieren, spiegelt sich in intellektuellen Projekten der so genannten "Neuen Kartographen Lateinamerikas". Zu ihnen gehören der Kolumbianer Carlos Rincón mit Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, Postmoderne, Globalisierung und Kulturen in Lateinamerika (1995), der Argentinier Néstor García Canclini mit Konsumenten und Citizens (1995), der Mexikaner Carlos Monsiváis mit Rituale des Chaos (1995). Ihre Studien stecken den aufkommenden Horizont des "globalisierten marketing" ab. Das Neue ist, dass mit der neoliberalen Marktgesellschaft nicht lediglich Bereiche des Wirtschaftslebens geregelt werden, vielmehr hat sie sich auch kulturell und moralisch als Gesellschaftsordnung etabliert. In dieser Konstellation wird das Kulturelle als Prozess verstanden, als etwas, das "in Bewegung" ist, in dem Ästhetik, Politik und Wirtschaft so ineinandergreifen, dass sie zu untrennbaren Feldern geworden sind.

Carlos Rincón gelingt ein theoretischer Brückenschlag zwischen Debatten im Feld von Sozial- Wirtschafts- Politik- und Kulturwissenschaften. Er geht davon aus, dass die bisher geltende Formel zur Beschreibung der Gesellschaft der Moderne "Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" von Ernst Bloch, die die Besonderheit lateinamerikanischer Entwicklung erklären sollte, heute nicht (mehr) zutrifft. Seine Argumentation beinhaltet, dass in unserer Zeit gerade die räumlichen Barrieren ausgelöscht werden und globale Gleichzeitigkeiten implantiert werden. Es geht aber um die auszumachenden Unterschiede, die sein Buchtitel - die Umdrehung der Blochschen Formel - unterstreicht: er bringt das Nicht-Gleichzeitige/Nicht Deckungsgleiche der globalen Gleichzeitigkeiten in den Blick. Die sich im rasanten Tempo vollziehende Umorganisierung der Kulturmärkte traf die lateinamerikanischen Länder völlig unvorbereitet. García Canclini versucht über die Verknüpfung der Bereiche Konsum und Politik Wege zu finden, um öffentlichen Raum neu zu bestimmen und zu besetzen. Das bedeutet die Beziehung zwischen Staat (Institutionen, Parteien) und Markt zu überdenken und neu zu gestalten, vielleicht zu verschränken. Das hieße verstärkte Anpassung an die ohnehin nicht aufzuhaltenden neoliberale Perspektive. Carlos Monsiváis nimmt eine andere Haltung ein: er kehrt die Gleichung Chaos-Normalität der "Gesellschaft des Spektakels" (Guy Debord) um. Monsiváis zeigt in seinen Chroniken vom ritualisierten Chaos die kulturellen Praktiken, beispielsweise populärer Religiosität, in ihren "befreienden Kräften". Im Fall von Mexiko trat die "zivile Gesellschaft" 1985 unter den Vorzeichen einer Katastrophe, dem Erdbeben in Mexico-City, in Erscheinung. Sie organisierte sich, agierte und überwand die Katastrophe in dem Moment als staatliche Strukturen zusammenbrachen, wie Monsiváis zeigt. Heute stellt sich die Frage, welchen Platz die zivile Gesellschaft im Zentrum einer funktionierenden Demokratie einnehmen kann. Vielleicht kann der Begriff auf diesem Weg wieder schärfere Konturen gewinnen.

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