Federico García Lorcas posthum erschienenes Buch Dichter in New York gehört zweifellos in die Reihe moderner Klassiker zusammen mit T.S. Eliots Waste Land, Ezra Pounds Cantos, Ossip Mandelstams Rauschen der Zeit, Bertold Brechts Hauspostille und Pablo Nerudas Aufenthalt auf Erden. Der eklatante Unterschied dieses Klassikers moderner Dichtung, das Besondere liegt im Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen: die Sonne Andalusiens mit dem Moloch der New Yorker Wall Street. Dichter in New York ist das Ergebnis eines Kulturschocks, den der Andalusier in New York erlebt. Lorca ist, als er 1929 nach New York reist, ein in Spanien gefeierter junger Dichter. Sein 1928 erschienener Romancero Gitano brachte den großen Publikumserfolg. Der New York Aufenthalt soll dazu dienen, Englisch
rfolg. Der New York Aufenthalt soll dazu dienen, Englisch zu lernen, einen Beruf zu finden, Geld zu verdienen, vielleicht als Lektor für Spanisch, wie Freunde vor ihm, die dann zurück in Spanien Anstellungen an Provinzuniversitäten fanden. Am 8. August 1929 schreibt García Lorca an seine Eltern in Granada: "Ich beginne hier etwas (sehr wenig) zu verstehen und auch zu schreiben und glaube es lohnt sich." Die Briefe aus New York verschleiern die tiefe Krise, die Lorca durchlebt. Doch von ihr sprechen die Gedichte. Lorca ist an der Columbia University eingeschrieben. Die ersten Gedichte sind betitelt mit Gedichte aus der Einsamkeit der Columbia University. Sie verweisen auf eine starke Abwehrreaktion: Regression. Der Schock war so groß und die Einsamkeit so unheimlich, dass Lorca zunächst nicht über New York schreiben kann, sondern den Rückzug in die Kindheit antritt. Die persönliche Krise Lorcas verknüpft sich mit der ästhetischen Krise. Sein dichterischer Erfolg in Spanien war durch die Kritik insbesondere seiner Freunde Salvador Dalí und Luis Buñuel stark getrübt. Beide hatten nun in Paris in surrealistischen Kreisen Aufsehen erregt, vor allem mit jenem neuen Film, der einen sehr merkwürdigen Titel trug: Ein andalusischer Hund. War er damit gemeint? Und die ästhetische Krise Lorcas ist verbunden mit der sexuellen Krise: seiner Homosexualität. Wieder sind es die Gedichte, die die Einschätzung wiederlegen, Lorca habe das New York der Roaring Twenties als sexuelle Befreiung vom katholisch konservativen Spanien erlebt. Denn, obwohl die New Yorker bürgerliche Gesellschaft im Umgang mit Homosexuellen sich liberal gebärdete, bekam ein ernsthafter, intellektueller Homosexueller wie Lorca die ganze Repression zu spüren. In Anlehnung und Auseinandersetzung mit Walt Whitman findet Lorca eine Lösung für seine ästhetische und sexuelle Krise. Die Ode an Walt Whitman beginnt so: Am East River und in der Bronx/ sangen die Jungen und zeigten ihre Lenden/ zwischen Öl und Rad, zwischen Leder und Hammer./ Neunzigtausend Bergleute schlugen Silber aus dem Fels,/ und Kinder zeichneten Leitern und Perspektiven. Im 6 freien Vers: New York, du Morast,/ New York gebaut aus Draht und Tod./ Was für eine Engel verbirgt sich in deiner Wange?/ Welche Stimme wird makellos die Wahrheit des Weizens verkünden?/ Wer den furchtbaren Traum deiner schmutzigen Anemonen? Schockierend und unvorstellbar muss für den Andalusier Lorca das Fehlen von Natur gewesen sein. Er findet "das blaue Paradies" ersatzweise in der schwarzen Kultur von Harlem. "Was ich betrachtete und durchstreifte und erträumte, war das große schwarze Harlem, die wichtigste Stadt der Schwarzen weltweit", schreibt er später in dem Vortrag Ein Dichter in New York (der hier erstmals auf deutsch vorliegt). Früher am 8. August berichtet er seiner Familie: "Ich habe zu schreiben begonnen. Es sind typisch nordamerikanische Gedichte und in fast allen geht es um Schwarze." Lorca lernte bereits kurz nach seiner Ankunft die schwarze Schriftstellerin Nella Larsen kennen, die ihn in die Clubs von Harlem einführt und zu Gottesdiensten mitnimmt. Lorcas Begegnung mit schwarzer Musik- und Performancekultur unterscheidet sich von der Entdeckung des Jazz seitens Pariser Intellektueller und der "Negrophilie" seitens der künstlerischen Avantgarde eines Apollinaire oder Picasso, denn er sitzt an der Quelle mitten in Harlem. Am 5. August entsteht die erste Version der Ode auf den König von Harlem. In der siebten von sechsunddreißig in freiem Vers geschriebenen Strophen hießt es: Ay Harlem, Harlem, Harlem"/ Es gibt keine Angst, die deiner unterdrückten Röte gliche,/deinem Blut, das in der Sonnenfinsternis erschauert,/deinem Wüten, taubstumm, glühend wie Granat im Zwielicht,/deinem großen gefangenen König in seiner Pförtnerlivree.Dichter in New York ist von Lorca in der vorliegenden Form nicht konzipiert worden, doch sollte es ein lyrischer Gegenentwurf zu der erfolgreichen kursierenden Reiseliteratur über Moskau und New York werden. In seinem Vortrag erklärt Lorca: "Ich werde euch nicht sagen, wie New York von außen ist, denn New York und Moskau sind die beiden gegensätzlichen Städte, über die sich heute ein Strom beschreibender Bücher ergießt; ich werde euch keine Reise erzählen, sondern meine lyrische Reaktion." Die Wall Street ist die von Menschen geschaffene Anti-Natur. Lorca fasst die Hybris der Moderne New Yorks in den Wolkenkratzern, die den Himmel verdecken. Er kommentiert: "Nichts ist poetischer und schrecklicher als der Kampf der Wolkenkratzer mit dem Himmel über ihnen. Schneegestöber, Regenschauer und Nebel untermalen, befeuchten, verwischen die riesigen Türme, diese aber blind für jedes Spiel, nichts ausdrückend als ihre kalte, jedem Geheimnis feindliche Intention, kappen dem Regen die Haare oder lassen ihre dreitausend Schwerter durch den weichen Schwan des Nebels scheinen." Als Lorca entdeckt, dass das "gewaltige Heer der Fenster" nicht zum Blick nach außen auf Himmel und Wolken, das Meer gedacht sind, verfasst er: Gedicht: vom Himmel umgebracht. Gewaltig ist auch der Schock in der Begegnung mit der Menschenmasse in New York. 1932 kommentiert er: "Niemand kann sich eine klare Vorstellung davon machen, was eine New Yorker Menschenmenge ist", doch "Walt Whitman wußte es und Eliot, der sie wie eine Zitrone auspreßt, um verletzte Ratten, nasse Hüte und Schatten am Fluß aus ihr herauszuquetschen." Lorcas lyrische Reaktion schlägt sich in dem Titel nieder: Landschaft mit Menschenmenge, die sich erbricht. 1929 erlebte Lorca unmittelbar den Börsenkrach an der Wall Street. In einem Brief nach Hause beschreibt er, wie er über Stunden die Menge vor der Stock Exchange beobachtet habe: kreischende Männer und Frauen, Ohnmachten, Ambulanzen, aus Hotelfenstern springende Selbstmörder. Das Gedicht Totentanz entsteht unter den Eindrücken des Börsenkrachs. Im Januar 1930 berichtet er "Ich schreibe einen Gedichtband mit New Yorkinterpretationen, die auf meine Freunde hier enormen Eindruck machen. Ich dagegen halte sie für blaß im Vergleich mit den Dingen, die symphonisch wirken etwa die Geräusche und die Komplexität New Yorks." Im selben Brief bittet er die Eltern, ihm das Manuskript eines vor Jahren gehaltenen Vortrags über die als "cante jondo" bekannte, von Gitanos gesungene andalusische Musik zu schicken, um ihn zu überarbeiten. "Es ist ein sehr wichtiges Thema und ich will es als Polemik, erst in Kuba, wo ich im März eingeladen bin und später in Spanien präsentieren." Die Begegnung mit New York, das Erleben von schwarzer Kultur der Spirituals, des Jazz und Blues, die Arbeit an den New Yorker Gedichten bringen den neuen Vortrag Spiel und Theorie des Duende hervor. Er begründet die neue Poetik Lorcas. Duende ist das "spanisch surreale", die Gabe, die einzig Stierkäpfer, Tänzer/innen, Sänger/innen und eben auch Dichter besitzen. Duende ist das dritte Element der Poetik, neben dem "Engel" und der "Muse" aus der Poetik der Avantgarde. Völlig absurd wird duende vom Übersetzer mit Kobold wiedergegeben. Auch an anderen Stellen gewinnt das großartige Unternehmen der vollständigen Neuübersetzung nach dem Manuskriptfund in Mexiko 1997, die beiden posthumen spanischen Ausgaben von 1940 durchzukämmen, zu korrigieren und "authentischer" zu gestalten zwar aus philologischer Warte, aber weniger im feeling, etwa wenn das spanische ay! penetrant mit ach! eingedeutscht wird. Der Gedichtband schließt mit der Flucht aus New York. Lorca verabschiedet sich aus der apokalyptischen Moderne New Yorks mit zwei Gedichten: Zwei Walzer in Richtung Zivilisation. Die Zivilisation ist Kuba: Ankunft des Dichters in Havanna. Kuba, das ist der "Son der schwarzen Kubaner". Lorca kehrt nach 9 Monaten nach Spanien zurück, kurz vor Beginn der "Zweiten Republik". Er schreibt ein Theaterstück nach dem anderen, wird zum produktivsten und erfolgreichsten Theaterautor Spaniens. Er baut die "universitäre Theatergruppe" auf, wird ihr Regisseur. Das ist für spanische Bühnen eine Neuheit. Lorca hält Vorträge, denn er weiß zu gut, dass das spanische Publikum vorbereitet werden muss auf Neuerungen wie moderne Dichtung. Lorca ließ sich Zeit mit der Herausgabe seiner New Yorker Gedichte. Der Putsch überraschte ihn, er wurde 1936 von Falangisten ermordet. Federico Garcia Lorca: Dichter in New York. Gedichte. Spanisch-Deutsche Übertragung und Nachwort von Martin von Koppenfels. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2000, 236 S., EUR 19,80
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