Käme heute jemand auf die Idee, García Márquez als japanischen Schriftsteller zu bezeichnen, würde das Literaturkenner nicht sonderlich aufregen. Die glauben das nämlich schon seit Beginn der achtziger Jahre. Bei einem Japanbesuch, kurz bevor er den 1982 den Nobelpreis bekam, wurde Márquez von japanischen Autoren enthusiastisch als einer der ihren gefeiert. Es ging dabei nicht um fernöstliche Gesten der Höflichkeit, denn längst lagen literaturwissenschaftliche Arbeiten vor, die Márquez´ Hundert Jahre Einsamkeit als japanischen Roman auswiesen. Kunststück, denn der spätere japanische Nobelpreisträger Kenzaburo Oé schrieb 1979 in seiner (bislang nicht auf deutsch erschienenen) Samuraigeschichte Dojidai Gemu - Dieses Spiel der Jetzt-Zeit die japanischen Hundert Jahre Einsamkeit.
Über seine große Bewunderung für japanische Schriftsteller hat García Márquez immer wieder berichtet. 1998 schrieb er: "Vor fünfzehn Jahren etwa las ich Die Schlafenden Schönen, ein Meisterroman des japanischen Nobelpreisträgers Yasanuri Kawabata, und empfand das erste Mal in meinem Leben großen Neid gegenüber einem anderen Schriftsteller. Fünfzehn Jahre später, nachdem ich ihn unzählige Male wieder gelesen habe, entschied ich, weil ich Bock darauf hatte, eine eigene der karibischen Kultur angepasste Version zu schreiben." García Márquez sprach mit Kenzaburo Oé, der ihm einige unveröffentlichte, wertvolle Angaben über Kawabata und die Welt seiner Bücher gab. So enthüllte er die Identität einer schönen Nordamerikanerin, der Kawabata gefühlsmäßig sehr nahe stand und als Modell für eine der Schönen seines Buchs genommen hatte.
Erinnerungen an meine traurigen Huren ist eine große Hommage an Kawabata und eine karibisch-literarische Antwort auf fernöstliche Lebensphilosophie. Dazu liefert uns der Meister das Klassischste vom Klassischen der Erzähl- und Unterhaltungskunst: eine Novelle, genauer - darin liegt das Neue - eine hybride Mischung von Novelle und Bericht. Bekanntermaßen wird in der Novelle eine unerhörte Begebenheit erzählt. In den Erinnerungen steht diese am Anfang: "In meinem neunzigsten Jahr wollte ich mir zum Geburtstag eine liebestolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen schenken". An der entscheidenden Frage, dem Wieder- und Neuschreiben der Schlafenden Schönen Kawabatas und an genrepoetischen Fragen haben deutsche Kritiker aber anscheinend kein Interesse. Einmal mehr wurde in der deutschen Rezeption von Marquez´ Roman vermeintlich Biografisches und Fiktionales kurz geschlossen. In diesen Kritiken ist der Ich-Erzähler einer unerhörten Begebenheit Gabriel García Márquez höchstpersönlich: Von "Sehr viel machismo" war da in einer zu lesen (strebt die Kritikerin vielleicht die Nachfolge von Alice Schwarzer in deutschen Talkshows an?) und, weiter im Originalton: "Melancholie" und "Tristesse". Als García Márquez schließlich zum Repräsentanten "trauriger Tango-Melancholie" und zum "gestrauchelten Gaucho" der Pampa avancierte, war ich endgültig amüsiert. Madame! Abgesehen davon, dass der Karibe García Márquez sich in Argentinien immer sehr unwohl fühlt: Würden Sie bei einem Flug von Hamburg aus den Äquator bereits überquert und den Süd-Atlantik erreicht haben, erst dann hätten Sie vergleichsweise die Entfernung zwischen der kolumbianischen Karibikküste (Barranquilla) und Argentinien zurückgelegt. Kurz: die kulturellen Unterschiede könnten nicht größer sein.
García Márquez´ Traurige Huren stehen im Dialog mit weiteren Klassikern der Weltliteratur: den Sonetten des spanischen Dichters Gerardo Diego, vor allem aber Francisco Delicados Bildnis der fröhlichen Andalusierin. Das 1528 in Venedig erschienene romanhafte Stück erzählt in 125 Episoden über Leben und Gewerbe von Prostituierten und Kupplerinnen im Austausch zwischen italienischer und spanischer Kultur des 16. Jahrhunderts. Genau auf dieses Moment richtet sich das Interesse García Márquez´ und auf Fragen wie den Berufsstolz und den gesellschaftlichen Status dieser Damen. In der fröhlichen Andalusierin gibt es eine Erzählerrolle, mit der das Werk einsetzt. García Márquez übernimmt diese Funktion, weist aber seinem Ich-Erzähler - anders als bei Delicado - den Rang des Hauptprotagonisten zu. Gleich im zweiten Kapitel erfahren wir, dass die "unerhörte Begebenheit" aufgeschrieben wird: "Ich schreibe meinen Bericht umgeben von den Resten der elterlichen Bibliothek". Es ist ein äußerst ironischer Umgang, den dieser Erzähler mit dem Diktum der Novelle - Wahrheit mit Unterhaltung zu mischen - pflegt. Die Wahrheit ist hier: der Bericht über das Alter.
García Márquez schreibt die Novelle in der Konstellation zwischen Kawabata und Oé. Aus einem Briefwechsel zwischen García Márquez und Kenzaburo Oé im September 1997 wissen wir, dass Kawabata das Modell seiner schlafenden Schönen, besagte Nordamerikanerin, für 17 hielt, als diese schon doppelt so alt war. García Márquez beginnt seine Novelle in enger Anlehnung an den Plot des Japaners. Kawabatas Protagonist Herr Eguchi, ein älterer Herr, Kunde des "Hauses der schlafenden Schönen", sucht die Jungfrauen nicht auf, um verlorene Genüsse zu erleben, wie aus westlicher Perspektive oft behauptet wird. Der Besuch, ein kontemplativer Akt an der Seite schöner schlafender Frauen zu träumen, ist eine Vorbereitung auf den Tod. Auch in der karibischen Version geht der alte Herr zu einer Jungfrau, aber er plant im Gegenteil eine "liebestolle Nacht". Was passiert dem Ich-Erzähler, dem 90jährigen Journalisten, beim Besuch der schlafenden Schönen im heimlichen Bordell in Barranquilla?
"In jener Nacht entdeckte ich das unglaubliche Vergnügen, den Körper einer schlafenden Frau zu betrachten, ohne vom Begehren bedrängt oder von der Scham behindert zu werden". So endet das erste Kapitel. Bei den folgenden Besuchen des Mädchens wird - wie bei Kawabata - das enigmatische Universum des weiblichen Körpers in einem Kult an das Schöne beschrieben. Das Make-up des Mädchens in der ersten Nacht - Reispulver, Rougepflaster, schwarz gerußte Brauen - kommt dem einer Geisha zum Verwechseln nah. Das Wieder-Schreiben eröffnet die Möglichkeit Bilder, Vorstellungen, Körper und Träume zwischen Ost und West frei fluktuieren zu lassen.
In einem Kommentar zum Projekt, die karibische Version der Schlafenden Schönen Kawabatas zu schreiben, bemerkte García Márquez 1997: "Fasziniert von dem Bericht (Kenzaburo Oés) für die phantastische Frau, deren Zauber in Künstlerkreisen in Japan Geschichte machte, kam ich auf den Gedanken, die schöne Amerikanerin, als Erwachte, bekleidet, in ihrem heutigen Alter auftauchen zu lassen, als Zeugin meiner ewigen Dankbarkeit für Kawabata. Sie könnte eine ältere Touristin sein, die den Autor auf die gesetzlichen Risiken aufmerksam macht, einen schon geschriebenen Roman zu schreiben, den sie in Japan gelebt hat, als sie Siebzehn war." Gespannt warte ich beim Lesen auf das Auftauchen dieser Figur. Gegen Ende des Romans begegnet der Ich-Erzähler einer Frau in einer Gondel. Er hat sie nicht einsteigen sehen. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr. Er erkennt in ihr eine seiner traurigen Huren: "Mit dreiundsiebzig Jahren wog sie so viel wie eh und je, war immer noch schön und eigenwillig und hatte sich die Ungezwungenheit ihres Berufs erhalten". Die Frau hört sich seine Geschichte an von der ersten Begegnung mit dem schlafenden Mädchen bis zu der tragischen Nacht, als er aus Eifersucht das Zimmer zertrümmerte und nicht mehr zurückkehrte. Nachdem sie über sein Geständnis nachgedacht hat, rät sie: "Mach, was du willst, aber verlier dieses Geschöpf nicht. Es gibt kein größeres Unglück, als allein zu sterben."
Kawabatas zen-buddhistischem Umgang mit dem Alter, sich träumend an der Seite schlafender Schöner auf den Tod vorzubereiten, ihn hinzunehmen, setzt García Márquez die Vehemenz karibischer Lebenswelt und -formen entgegen: Im außergewöhnlichen Zusammenleben mit dem Mädchen, das sich in nächtlichen Begegnungen, dem Betrachten, dem Vorsingen, Vorlesen und Berühren entfaltet. Beide Schriftsteller gehen literarisch bis an die Grenzen ihrer Kulturen. Kawabata ging auch im persönlichen Leben an die äußerste Grenze: krank, deprimiert und überarbeitet, verübte er 1972 Harakiri. García Márquez lässt im Wiederschreiben des japanischen Klassikers seinen Ich-Erzähler sich ostentativ für das Leben entscheiden, auch wenn diesem die Knochen noch so weh tun: "Mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag", heißt es am Schluss des Buches.
Wie viele Jahre García Márquez an der Novelle gearbeitet hat, wissen wir aus seiner Zeitungskolumne "Das Flugzeug der schlafenden Schönen", die am 19. 9. 1982 in El Espectador erschien. Er berichtet von einer Erfahrung, die er 55-jährig auf dem Flug von Paris nach New York erlebte - nach intensiven Gesprächen mit japanischen Schriftstellern in Paris. Der Autor durchlebt an der Seite eines jungen schlafenden, träumenden Mädchens wach die Träume des alten Euguchi. Doch ohne das Gefühl der Freude. Er rebelliert gegen diesen Zustand, wünscht: "der Flugkapitän möge das Mädchen wecken, mir meine Freiheit, vielleicht sogar die Jugend wiedergeben". Die junge Frau wacht aber erst nach der Landung in New York auf, sie verschwindet, ohne ihn anzusehen, auf nimmer Wiedersehen. Er fliegt mit demselben Flugzeug weiter nach Mexiko-City. Anflüge nostalgischer Erinnerung an die Schönheit des Mädchens begleiten ihn. Und es geht ihm nicht aus dem Kopf, wie ihn die "verrückten Japaner" einschätzen. Beim Ausfüllen der Einreiseformulare schreibt er mit einem Anflug von Bitterkeit: "Beruf: japanischer Schriftsteller. Alter: 92 Jahre".
Gabriel García Márquez: Erinnerung an meine traurigen Huren. Roman. Kiepenheuer, Köln 2004, 159 S., 16,90 EUR
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